Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 190

Zur Psychologie Nietzsche’s (Weisengrün, Dr. Paul)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 190

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190 WEISENGRÜN.

ihm entgegengesetzter Geistesrichtungen, nach Orientirung in gänzlich
verschieden gearteten Seelen. Daher seine ungerechte Verurtheilung von
Schiller, Zola u. s. w. Nietzsche’s Seele zittert nicht mit bei jedem
gewaltigen psychischen Ereigniss, sie vibrirt nur bei Vorkommnissen
subjectiver Art. Er ist als Individualpsychologe höchstens fähig, mit
Vollendung Selbstanalyse zu treiben, nie aber Seelenkunde des
fremden Ichs. Schon der Decadent in ihm hindert ihn daran. Man
sehe sich unsere grossen Psychologen an, man betrachte Balzac,
Stendhal, Gogol, Dostojewsky — sie sind Alle wenigstens im Mit-
vibriren ganze Menschen, fähig der starken seelischen Concentration,
womit man in andere Seelen dringt, Männer ohne Selbstbespiegelung,
ohne innere Pose.

Wir leben in der grössten aller Uebergangsperioden. Nicht allein
unsere Wissenschaft, unsere Methoden, unsere Ideen harren der
Revision, es bereitet sich auch eine Umformung unserer Grundinstincte,
eine Umgestaltung anserer Empfindungen, eine Erhöhung unserer
Vitalität vor. Nietzsche hat uns nun nicht, wie Viele glauben, diese
Zukunft in gewaltigen Perspectiven vorausgesagt. Er hat nur mit allen
Verführungskünsten der Sprache uns an einigen Punkten die grosse
Umwerthung offenbart. Seine Schriften sagen mehr aus vom Wesen
der modernen Menschheit als von der zukünftigen. Sein Werk ist, in-
sofern es nicht direct von der Vergangenheit handelt, Memoiren-
Literatur. Es sind Aufzeichnungen über die Krankheit des modernen
Menschen, dem es an Styl der Cultur gebricht und an Vitalität.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 190, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-05_n0190.html)