Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 189

Zur Psychologie Nietzsche’s (Weisengrün, Dr. Paul)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 189

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ZUR PSYCHOLOGIE NIETZSCHE’S. 189

vernehmbar Ja, Nietzsche ist der grösste Geist der Decadence,
ihr Triumph, ihr Höhepunkt. Mit ihm hat sie sich gleichsam selbst
überwunden und schreitet dem Untergange zu. Zwar Nietzsche’s Ideen
sind nur zum geringsten Theile decadent, aber sein Instinct, sein
Empfindenkönnen, sein Temperament spiegeln in vollkommener Treue
die zerrissene und zerklüftete, allzu verinnerlichte, allzu vergeistigte Gene-
ration wieder, die heute uns gar zu gern alle ihre Werthe aufoctroyiren
möchte. — Der Erfinder der Formel vom Uebermenschen ist in Wirk-
lichkeit ein geistiger Antipode der Grundinstincte, die uns diese
Formel lehrt.

So verlässt den Decadent-Nietzsche die Instinctsicherheit nur
dann keinen Augenblick, wenn es gilt, psychische Interpretation zu
treiben. Wir dürfen ihm also nur mit allergrösster Vorsicht folgen auf
dem Wege zur Erneuerung eines Styls der Lebensführung.
Denn Nietzsche war nur ganz dabei mit seinen Worten und Formeln,
nicht aber mit seinem Instinct.

Als grösster Psychologe aller Zeiten wird uns des Oefteren
Nietzsche gepriesen. Wir finden bei näherem Zusehen, dass gerade
derjenige Theil seiner Wirksamkeit als Psychologe, der gewöhnlich am
unbeachtetsten bleibt, sich als der reichste und innerlichste erweist.
Unser Denker ist vor Allem gross als Völkerpsychologe. Er be-
greift zwar nicht die Masseninstincte, zwar bleibt ihm der rein sociale
Theil der Völkerpsychologie verschlossen, aber da, wo es sich um
Racen handelt und um das Temperament der Völker, um die Wirksam-
keit einer Volkstradition und einer nationalen Literatur, da ist Nietzsche
unübertrefflich. Ich will gar nicht von seiner Griechenpsychologie
sprechen, aber wie bedeutend ist schon sein Hinweis auf psychologische
Zusammenhänge in den »Unzeitgemässen Betrachtungen«! Wie früh
erkannte er den neuen Typus des Deutschen — nach 1870, wie
richtig beurtheilt er in »Wie man mit dem Hammer philosophirt« die
Menschen zur Zeit Goethe’s. Um aber Nietzsche als Völkerpsychologen
vollauf zu würdigen, lese man vor Allem: »Jenseits von Gut und
Böse«. Seine Aperçus über Deutsche und Franzosen, seine psychische
Werthung der Juden, die kurzen Bemerkungen über Russen — und
Slaventhum sind einfach bewunderungswürdig.

Als Individualpsychologe hingegen weist Nietzsche bedeutende
Schwächen auf. Er selbst spricht mehrmals mit grösstem Lobe von
Dostojewsky und Stendhal. Wie verschieden nun auch der halbmysti-
sche Russe und der kalte, reflectirende, analytische Franzose sind,
Beiden ist in hohem Masse die Fähigkeit gemeinsam, in visionärer
Weise die Menschen zu schauen und mit ein paar Strichen Gestalten
zu bannen, Typen festzuhalten. Davon ist bei Nietzsche nirgends auch
nur die Spur. Er ist als Psychologe vor Allem Constructeur, ein
Mann, der an seelischen Typen mit allem Raffinement des Geistes,
mit allen ausgeklügelten Mitteln einer nur halb lebendigen Phantasie
arbeitet. Zwar wittert sein Philologeninstinct alles Fremdartige, aber
den Psychologen in ihm drängt es nicht nach Erkenntniss seltsamer,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 189, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-05_n0189.html)