Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 188

Zur Psychologie Nietzsche’s (Weisengrün, Dr. Paul)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 188

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188 WEISENGRÜN.

ist, beweist vor Allem seine Sociologie. Sie gipfelt, wie ja wohl all-
gemein bekannt ist, in der Lehre vom Uebermenschen. Zwei ver-
schiedene Grundgedanken offenbart uns eigentlich diese Theorie. In
der Lehre vom Uebermenschen steckt erstens der Begriff einer künst-
lichen Züchtung der Menschheit und ferner die Idee eines solchen
socialen Ideals, dass dessen blosse Erwähnung, dessen alleinige Ver-
kündigung genügen soll, um die auserlesenen Geister zu berauschen.
Die Lehre vom Uebermenschen soll für den erwählten Menschen, für
das grosse Individuum das sein, was die Religionen heutzutage für die
Massen sind: das vornehmste geistige Narcoticum. Was die
Idee der künstlichen Züchtung nun betrifft, so zeigt sie sich bei
Nietzsche im vortheilhaftesten Gewände. Sie ist eine originelle, gehalt-
volle, starker Ausbildung fähige Doctrin. Nur der feine, voll intuitiv
erfassende Kenner der Griechen konnte in dieser Weise zu dem Be-
griff der künstlichen Züchtung gelangen. Dieser Begriff verhält sich zur
Lehre vom Dionysios-Menschen wie die Therapie zur Physiologie. Wer
die Griechen im tragischen Zeitalter so liebt, wer die Modernen so
hasst wie Nietzsche, muss unsere Menschheit zu einer neuen Art von
Hellenen heranzüchten, muss die Physis vor Allem reformiren wollen.
Die Lehre vom Uebermenschen als sociales Ideal aber offenbart uns
klarer als jede seiner sonstigen Doctrinen eine andere Grundnote in
Nietzsche’s Wesen. Sehen wir genauer zu, betrachten wir dies sociale
Ideal mit dem Auge des Psychologen So redet kein starker Geist
vom Thatendrang, von der Schönheit des Handelns, vom Wollen an
sich. Der starke Geist findet Thatendrang selbstverständlich und preist
nicht herrliches Vollbringen in so sehnsüchtiger Weise, mit aller An-
strengung der Seele, mit allen Verführungskünsten der Sprache. Die
Lehre vom Uebermenschen würde ein wahrhafter Vollbringer in einigen
klaren und kurzen Sätzen aussprechen; er würde damit Memoiren
seiner Seele schreiben, ein kurzes, aber inhaltreiches Inventarium seiner
geistigen Thätigkeit vornehmen wollen. Es hiesse Hamlet zum Fortinbras
machen, wollte man in diesen Dithyramben eines schwachen Gemüths
Keime zum Uebermenschen selbst auffinden. — Man lese das Memorial
von St. Helena, und man wird mich verstehen. Die kurzsichtigsten Augen
werden wohl hier zu erkennen vermögen, wie ein wahrhafter Kraft-
mensch von der Schönheit der Action und von der Vornehmheit
starken Wollens spricht.

Nietzsche ist eben, und hiemit verrathen wir die Grundformel
seines Wesens, selbst Decadent durch und durch. Sein Verhältniss
zu seinem Uebermenschen ist das der Romantiker zu Shakespeare
oder zum deutschen Mittelalter. Sehnsüchtig blickt er nach dem Lande
seelischer Tapferkeit, halb schelmisch und halb wehmüthig blinzelt er
hinüber nach den Jagdgründen der blonden Bestie. Der starke Mensch
ist ihm eine zu Zweidrittel unbekannte Domäne, und in: »Also sprach
Zarathustrac stimmt er für alle diejenigen, die sich auf Rhythmus ver-
stehen, eigentlich nur das Hohelied der Ermannung an. Werde hart,
werde hart, predigt Zarathustra , zu oft, zu deutlich, zu laut

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 188, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-05_n0188.html)