Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 187

Zur Psychologie Nietzsche’s (Weisengrün, Dr. Paul)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 187

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ZUR PSYCHOLOGIE NIETZSCHE’S. 187

Philologen, dass dem so sei. Und glaubhaft genug wäre es, dass der
geniale psychische Interpret griechischer Cultur auch einen guten Aus-
leger und Textkritiker abgegeben haben mag. Auf jeden Fall aber ist
Nietzsche bedeutender Philologe in dem allgemeinen und weiteren
Sinne eines August Böckh, der von der classischen Philologie eine
geistige Reproduction des gesammten Alterthums forderte. Ja, was bei
Böckh eine ideale Forderung bleibt, wird hier verwirklicht. Nietzsche
erfasst nicht nur das Alterthum, er verinnerlicht es. Er offenbart uns
die tiefsten Beziehungen zwischen dem Hellenenthum und unserer Cultur.
Hinter dem Philologen indessen steckt ein minder instinctsicherer
Werthgestalter geistiger Dinge. Seine Moral ist nur da wahrhaft
intuitiv, wo es sich um das Aufzeigen von Schwächen herrschender
Moralsysteme handelt oder wo es gilt, Anfänge, Ansätze, primitive
Werthe aufzufinden und zu analysiren. Nietzsche ist ein ganz anderer
Genealoge der Moral als der nüchterne Spencer und all die britischen
Utilitarier mit ihrem grossen sociologischen Wissen, ihren falschen biologi-
schen Analogien und ihrem Aufwand an methodischen Mätzchen. Seine
positive Ethik hingegen wird von einem Stützpfeiler getragen, der, im
Grunde genommen, ebenfalls auf rein historisch-philologischen Deduc-
tionen beruht.

Wir modernen Menschen sind ein Product zweier Culturen. Wir
tragen alle die geistigen Spuren des Hellenenthums und der christlichen
Weltanschauung in uns. Nietzsche hat nun das Wesen des Griechen-
thums wirklich entdeckt und gibt auch vor, die tiefsten Zugänge zum
Christenthum erschöpfend nachgewiesen zu haben. Es bedarf indess
wohl keines Nachweises, dass Nietzsche keine Beschreibung, sondern
eine subjective Werthung des Christenthums vorgenommen, keine Ge-
schichte, sondern eine einseitige Psychologie dieser Weltanschauung
geschrieben hat. Aus dem Weltwirken des Judenthums und seiner
historischen Verlängerung hat Nietzsche ein Gedicht gemacht: die
Poesie der »ressentiment«-Empfindung. Der grosse Umweg, auf dem
das Hellenenthum zu uns gelangte, die Renaissanceperiode mit all
ihrem Glänze, hat allerdings in unserem Denker einen verständnissvollen
Interpreten gefunden. Aber dieses Element seiner Culturauffassung hat
Nietzsche vornehmlich aus Burckhardt’s »Cultur der Renaissance in
Italien« entlehnt, wo uns in vollendeter Darstellung und mit nie ver-
sagender Kraft gezeigt wird, wie die Bildung einer gereinigten Welt-
anschauung, die erste Werthung einer starken Individualität, der Anfang
eines grossartigen Styls der Lebensführung in Europa vor sich gegangen
sind. Die »Herren«-Moral Nietzsche’s ist eine Uebersetzung aus dem
Historischen ins Philosophische.

Sie ist eigentlich aus blosser Betrachtung des Renaissance-Zeit-
alters gewonnen — eine Uebertragung von Renaissancegewohnheiten
in alle Ewigkeit.

Wie sehr aber Nietzsche’s Instinctsicherheit in fast allen Dingen
(eine Ausnahme macht seine Völkerpsychologie, die wir später be-
rühren werden) Philologendenkgewohnheit, höhere Interpretationskunst

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 187, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-05_n0187.html)