Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 186

Zur Psychologie Nietzsche’s (Weisengrün, Dr. Paul)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 186

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ZUR PSYCHOLOGIE NIETZSCHE’S.
Von Dr. Paul Weisengrün (Wien).

Es hat kaum jemals einen Denker gegeben, der von seiner Epoche
so verschieden beurtheilt und in so hohem Masse bald überschätzt und
bald unterschätzt wurde wie Friedrich Nietzsche. Während er dem Einen
als blosser Stylkünstler, als Anreger zarter und complicirter Gedanken
und kühner Erfinder philosophischer Schlagwörter erscheint, preisen ihn
Andere als grossen Dichter und Denkerfürsten, als den gewaltigen Werth-
veränderer, der in grossartigen Perspectiven uns die Zukunft offenbart,
als den tiefsten Psychologen aller Zeiten. Man ist sich nicht einig über
Nietzsche, und kein Steg, den Freund und Feind gleich gerne betreten
möchten, scheint zu einem intimen Verständniss seiner Grundeigen-
schaften zu führen. Die Nietzscheaner sehen in seinen Schriften das
grösste Ereigniss unserer Cultur. Die Nietzsche-Gegner warnen vor ihm
als dem Erneuerer einer grossen sophistischen Periode, als dem Neo-
Cyniker, als dem Verführer der Jugend.

Was ist Nietzsche nun wirklich gewesen? Ich glaube als Psychologe
zu verfahren, ganz im Sinne unseres Denkers selbst, wenn ich in
wenigen flüchtigen Strichen die Grundnote seines schriftstellerischen
Wirkens hier zeichne. Nur der Nietzsche-Kenner wird die folgenden
Zeilen ganz begreifen und mit mir wenigstens in dem Streben überein-
stimmen, Nietzsche vor den Nietzscheanern retten zu wollen, ohne ihn
den Philosophieprofessoren, den falschen Systematikern und den Moralisten
preiszugeben.

Vollkommen instinctsicher in grossen wie in kleinen Dingen,
so stellt man sich gerne unseren philosophischen Stylkünstler vor. Es
ist in der That leicht, nachzuweisen, welch festen und tiefen Spürsinn
sein Dionysios-Begriff, seine Interpretation hellenischer Cultur, seine
kritische Analyse unserer Art von Wissenschaftlichkeit verrathen. Sein
Instinctsinn weist da grosse Sicherheit auf, wo es gilt, hinter das Mensch-
liche intellectueller Processe zu gelangen, sein prächtiges Errathungs-
vermögen offenbart sich am meisten dort, wo er kritisirt, wo er negirt,
wo er verurtheilt. Vor Allem ist er gross im Auffinden und Aufspüren
von Culturanfängen, im Zurückgehen auf die ersten psychischen Quellen,
im Zerwühlen seelischer Fragmente und Ergänzen dürftiger Daten aus
dem Geistesleben. Das macht, dass Nietzsche, der immer und stets ein
Interpret geblieben ist, sich als Philologe im besten Sinne offen-
bart. Ich weiss nicht, ob seine Abhandlungen über Homer und die
classische Philologie, über Empedokles u. s. w. einen grossen fach-
wissenschaftlichen Werth besitzen. Man versichert uns seitens vieler

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 186, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-05_n0186.html)