Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 207
Text
Ob gefoltert sie im Siechbett
Oder in des Wahnsinns Krallen, —
Ob sie unterm Henkerbeile,
Ob durch eigne Hand sie enden:
Ruhlos wandeln sie auf Erden,
Schon als Embryos belastet,
Und in Purpur und in Lumpen
Tragen ihres Daseins Fluch sie.
Raitz in Mähren. Ferdinand von Saar.
LEBEN.
II.
»Verblasstes Gestern, unerwünschtes Morgen,
die mir den Geist in dumpfes Heute zwingen!
Naht sich kein Traum, die Stunden zu beschwingen,
verschollner Zeiten Farbenspiel zu borgen?«
Er wollte sich das Haupt mit Rosen kränzen,
das Mahl erstrahlte in geerbter Pracht,
und Frauen kamen, die in losen Tänzen
sein Bett umkreist in schlummerloser Nacht.
Er suchte in den Schriften weiser Ahnen
und fand nur, was sein Sinnen selbst erlauscht,
dass irgendfern auf unerforschten Bahnen
ein grosses Leben durch die Zeiten rauscht.
»Wo schläft der Gott, mit dem das Leben schied,
ragt der Altar, umglüht von Opferherden?
Ihm strebt die Seele Weihrauchduft zu werden,
ein Rausch von Duft und Ton: ein bacchisch Lied.
München. Oscar A. H. Schmitz.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 207, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0207.html)