Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 208
Text
Memoiren einer Person.
Von Feodor Michailowitsch Dostojewsky.
Deutsch von Nina Hofmann.
(Schluss.)
»Das, Baron, könnte Ihnen, wenn Sie es wünschen, Platon Ni-
kolajewitsch besser erklären als ich.«
»Was für ein Platon Nikolajewitsch? Schwatzen Sie nicht, sondern
zur Sache.«
»Platon Nikolajewitsch, unser Hausphilosoph, Naturforscher
und Magister. Er hat einige philosophische Bücher in die Welt
gesetzt, nun aber schläft er seit drei Monaten vollständig ein, so dass
man ihn hier gar nicht mehr aufrütteln kann. Einmal in der Woche
murmelt er einige Worte, die gar keinen Sinn haben.«
»Zur Sache denn, zur Sache!«
»Er erklärt das Alles durch das allereinfachste Factum, nämlich
damit, dass wir oben, als wir noch lebten, irrigerweise den dortigen
Tod für wirklichen Tod hielten. Der Körper belebt sich hier gleichsam
aufs Neue, die Lebensüberreste concentriren sich, doch nur im Be-
wusstsein. So setzt sich das Leben — ich kann es Euch nicht so wieder-
geben — gleichsam in Folge der Trägheit fort. Alles ist nach seiner
Meinung irgendwo im Bewusstsein concentrirt und dauert noch zwei, drei
Monate fort — — manchmal sogar ein halbes Jahr. Es ist z. B. Einer
hier, der nahezu schon ganz zersetzt ist, aber einmal, in etwa sechs
Wochen stösst er plötzlich ein Wort hervor, natürlich ganz sinnlos:
‚Bobók, bobók‘, sagt er da — — aber in ihm ist immer noch ein
Leben, das in einem unsichtbaren Funken fortglimmt — — —«
»Ziemlich dumm. Nun, und wie ist’s denn damit, dass ich keinen
Geruchsinn habe und doch Gestank verspüre?«
»Das? — — He, he! — Nun, hier ist unser Philosoph schon
wirklich in den Nebel gerathen. Gerade über den Geruchsinn hat er
bemerkt, dass man hier Gestank rieche — sozusagen — seelischen
Gestank — He, he! Gleichsam den Gestank der Seele, damit man sich
in diesen 2, 3 Monaten noch besinnen könne — — und das sei
sozusagen — die letzte Barmherzigkeit — — Nun scheint mir dies
Alles schon ein mystisches Phantasiren, lieber Baron, ganz verzeihlich
in seiner Lage — — —«
»Genug! Auch alles Weitere, davon bin ich überzeugt, ist Un-
sinn — die Hauptsache ist: Zwei, drei Monate Leben und zu aller-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 208, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0208.html)