Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 212
Text
Ein weisses Schloss in weisser Einsamkeit.
In blanken Sälen schleichen leise Schauer.
Todtkrank krallt das Gerank sich an die Mauer,
Und alle Wege weltwärts sind verschneit.
Darüber hängt der Himmel brach und breit.
Es blinkt das Schloss. Und längs den weissen Wänden
Hilft sich die Sehnsucht fort mit irren Händen
Die Uhren stehn im Schloss: Es starb die Zeit.
München. René Maria Rilke.
OCTOBER.*)
Fort; Liebe, vom eintön’gen Meer — hier, starre
Die graue Schlucht herab aufs alte Jahr.
Herab, o Liebe! Keinen Handdruck mehr?
Da wir; des Lenzes ungedenk, noch leben,
Und Sommers, nach dem Herbst nur voll Begehr?
O horch nur, horch! Vom grauen Thurme beben
Die Töne klangvoll durch das Dämmer weben.
Süss, traurig, gleich dem letzten Hauch des Jahres,
Zu lebenssatt, dem Tod zu trotzen, war es —
Gleich uns, gleich uns! o sprich, ob’s uns nicht frommt,
Uns auszuruh’n von Leben, Leid und Lasten,
Vom Glück zu ruh’n, das unvermuthet kommt,
Zu ruh’n von Liebe, die nichts weiss vom Rasten? —
Die Töne — horch — aufs Neue, die verblassten!
Blick, Lieb’, empor! Halt fest dich ohne Beben!
Wie fänd ich Liebe wohl genug und Leben!
London. Wllliam Morris.
Deutsch von Friedrich v. Oppeln-Bronikowski.
*) Dieses Gedicht ist ein Zwischenspiel aus dem »Irdischen Paradies« des
jüngst verstorbenen, berühmten englischen Dichters William Morris, der im Verein
mit Burne Jones, dem grossen Präraphaeliten, den gewaltigen Aufschwung der
decorativen Künste hervorgerufen hat.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 212, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0212.html)