Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 209
Text
letzt — der Bobók. Ich schlage Allen vor, diese zwei Monate so an-
genehm als möglich zu verbringen, und darum müssen wir uns Alle
auf einer neuen Grundlage einrichten. Meine Herren! Ich schlage vor,
dass wir uns über nichts mehr schämen.«
»Ja, ja! Schämen wir uns über nichts, schämen wir uns über
nichts!« hörte man viele Stimmen, und seltsamerweise auch ganz neue,
das heisst solche, die indessen neu erwacht waren. Mit ganz besonderer
Bereitwilligkeit donnerte im Bass der nun schon völlig zu sich ge-
kommene Ingenieur seine Zustimmung heraus; das Mädchen Katisch
kicherte freudig auf.
»Ach, wie hab’ ich Lust, mich über gar nichts zu schämen!«
rief Awdotja Ignatjewna entzückt aus.
»Hört Ihr, wenn schon Awdotja Ignatjewna sich über nichts
schämen will — — —«
»Nein, nein, nein, Klinewitsch, ich habe mich geschämt, ich habe
mich dorten wirklich geschämt; hier aber hab’ ich schrecklich, schreck-
lich Lust, mich über gar nichts mehr zu schämen.«
»Ich verstehe, Klinewitsch,« meldete sich des Ingenieurs Bass-
stimme, »dass Sie vorschlagen, das hiesige sogenannte Leben auf einer
neuen, höchst vernünftigen Grundlage aufzubauen.«
»Nu, darauf spuck ich! Dazu wollen wir Kudejarow erwarten,
gestern hat man ihn gebracht. Er wird aufwachen und euch Alles klar
machen, das ist ein Kerl, ein grossartiger Kerl! Morgen, scheint’s, wird
man noch einen Naturforscher herbeischleppen, einen Officier ganz
sicher und, wenn ich nicht irre, nach 3—4 Tagen einen Feuilletonisten,
und zwar, glaub’ ich, sammt seinem Redacteur. Uebrigens, hol’ sie der
Teufel — aber ein Häuflein der Unsern wird sich schon zusammen-
finden, und da wird sich bei uns Alles von selbst einrichten. Vorläufig
jedoch will ich nur, dass man nicht lüge. Ich will nur dies, denn das
ist die Hauptsache. Auf der Erde leben und nicht lügen, ist nicht
möglich, denn Leben und Lüge sind Synonima. Hier aber werden wir
zu unserem Spass nicht lügen. Hol’s der Teufel, das Grab ist doch
auch zu was gut! Wir werden einander alle unsere Geschichten ganz laut
erzählen und uns gar keiner Sache mehr schämen. Ich bin, wisst Ihr,
von den Lüsternen, das war Alles dort oben mit faulen Stricken zu-
gebunden. Herunter mit den Stricken, und lasst uns diese zwei Monate
in der schamlosesten Wahrheit leben. Wir wollen uns ganz entblössen,
ganz nackt wollen wir sein!«
»Ganz nackt! Ganz nackt!« schrie man aus vollem Halse.
»Ich habe schrecklich, schrecklich Lust, mich zu entblössen!«
winselte Awdotja Ignatjewna.
»Ach, ach, ach! Ich sehe, hier wird es lustig sein, ich will nicht
mehr zum Eck.«
»Nein, ich möchte noch ein wenig leben, wisst ihr, ich möchte
noch ein wenig leben!«
»Hi, hi, hi!« kicherte die Katisch.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 209, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0209.html)