Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 225
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Daneben sind sie aber die eifrigen Hüter geistiger Vornehmheit,
sie hassen die Reclame — welche ein Anderer macht — besonders
aber dann, wenn sie Gefahr läuft, zu einem ehrlichen künstlerischen
Erfolg zu führen. Die im vorigen Jahre aus diesem Grund erfolgte Zurück-
weisung des Ferraris’schen Kaiserbildes ist vom künstlerischen Standpunkte
aus allerdings weniger bedauernswerth als die jüngste Refüsirung, welche
zwei interessante Porträts eines jungen Mailänder Künstlers betraf, dessen
origineller Verismus auf der letzten Ausstellung den gestrengen Hütern
der k. k. akademischen Langweile bereits zu viel Aufsehen erregte.
Und in derselben Form wurde auch eine hervorragende Landschafterin, als
sie von den Modernen segensreiche Anregungen empfangen hatte, in
die Schranken einer der Wiener Künstlergenossenschaft geläufigeren
Naturwahrheit zurückgewiesen.
Aber mit den Künstlern zugleich fordert die Kunstkritik Arm in
Arm das kommende Jahrhundert in die Schranken. Hier müssen wir
mehrere Kategorien unterscheiden. Die Einen, welche weder etwas von
Kunst verstehen, noch schreiben können, und Jene, welche leider —
journalistische Gewandtheit besitzen.
So ist die Unfähigkeit eines in Verständnisslosigkeit ergrauten
Wiener Kunstreferenten, den sein Alter nicht vor den effectvollsten
kritischen Thorheiten schützte, beinahe sprichwörtlich geworden. Hier-
auf müssen jene »Selbstmaler« in Betracht gezogen werden, welche
die Ueberlegenheit über ihre Collegen wirksamer mit der Feder
als mit dem Pinsel erweisen, und als beachtenswertheste, weil gefähr-
lichste Kategorie die schönen Stylisten, die Muther-Schüler, welche bei
der »Menge« als »Kenner« gelten, weil ihr Urtheil sich mit dem des
Laienpublicums deckt, das in dieser Uebereinstimmung natürlich die
Fähigkeit des Kritikers, nicht aber die eigene Urteilslosigkeit er-
blickt. Als ob der Kritiker dem Leser nicht gerade das zu sagen hätte,
was er sich »nicht selbst auch dabei gedacht hat«, sondern das, was
ihm entgangen, wofür ihm die Tiefe der Erkenntniss fehlte, wozu er
erst erzogen werden muss.
Man missverstehe mich nicht!
Ich verehre und bewundere Muther, diesen Heine der Kunst-
geschichte. Aber wie er in seiner hochragenden und eigenartigen
Individualität dem grossen Dichter gleicht, hat er mit diesem auch den
weitestgehenden und gefährlichsten Einfluss auf eine junge Generation
gemein. Seit Muther schreibt Alles über Kunst. Die blendende Ge-
wandtheit seines Styls, die ausserordentlich poetische und sensible Art
seiner Schilderung liess die Tiefe seiner Erkenntnisse übersehen und zog
jene Richtung der Kunstkritik gross, welche die nothwendigen Elemente
künstlerischen Verständnisses zu ersetzen weiss durch die literarische
Ausdrucksfähigkeit der allgemeinen Intelligenz. Das scheinbar »Ueber-
zeugende« in diesen Darstellungen ist das Gefährliche, es gleicht eiuem
plastisch bemalten Vorhang, den die Naivetät des Publicums schon
für die Analyse des aufzuführenden Stückes nimmt.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 225, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0225.html)