Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 224
Text
liebste« Putti und bausbackige Engelsköpfchen, deren Darstellung nichts
Anderes bedeutet als die Sinnenfreude an der runden, gesunden Leib-
lichkeit, während es die Psyche des Kindes ist, in ihren blassen, feinen
Regungen, ihren heimlichen Schmerzen, ihren scheuen Freuden, den
zarten, zitternden Fäden ihrer Empfindung, was die Seele des mo-
dernen Künstlers bewegt. Und wie ihre tiefe Reinheit in der unsäglich
milden Menschlichkeit der Kunst des Fidus zum Ausdruck gelangt, so
hat Max Klinger das Weib in den tiefen Wandlungen seiner Seele
erfasst, als ein Künstlerphilosoph in der Welt des Sinnlichen, so Sascha
Schneider die herbe Männlichkeit, ihr hohes Ringen und die blutige
Verzweiflung ihrer gehemmten Kraft.
Alles das geht unempfunden und unbeachtet an unserem Kunst-
leben vorüber. Wieder und wieder das alte Schwelgen im Genre und
Porträt, im Stillleben und Historienbild, den geläufigen Ausdrucksmitteln
der künstlerischen Durchschnittsseele. So schaffen unsere Maler fort,
ohne das sein zu wollen, was jene sind: echte Herzenskünder, Ent-
decker einer neuen Sinneswelt, jauchzende Freudenbringer einer jungen
Cultur.
Dagegen wird die heimische Talentlosigkeit ängstlich gehütet und
poussirt. Wer nur irgend welche Anlagen zu prätenziöserer Unfähig-
keit besitzt, darf eines gewissen Anhanges sicher sein. Dabei muss dem
Publicum zur steten Aufrechterhaltung des Interesses und der noth-
wendigen Spannung von neuen Richtungen vorgegaukelt werden, von
einer jungen Kunst, von Stürmern und Drängern, die denn auch that-
sächlich in einigen Sonderexemplaren vorhanden sind.
Leider ist ihr grosses Wollen meist von fast ebenso geringer Be-
gabung unterstützt, und so haben sie die beste Aussicht, zu geistigen
Führern emporgehoben zu werden, und erscheinen wenigstens in der
Farbenmischung zu umwälzenden Neuerungen berufen. Wenn sie nun
noch gesellschaftliche Talente aller Art mit ihren künstlerischen Ideal-
zwecken verbinden, so können selbst die überraschendsten Beweise ihrer
künstlerischen Unpersönlichkeit sie nicht vor einer beneidenswerthen
Carrièrre beschützen. Dabei klagen sie beim Champagner über das
traurige Stagniren unserer Kunstverhältnisse, belächeln Den oder Jenen
mitleidig wegen seiner veralteten Anschauungen und rufen dabei un-
ausgesetzt nach den Messiasjüngern der neuen Kunst. Und in dieser
seltsamen Theorie gleichen sie dem Diebe, der, um nicht erwischt zu
werden, im Laufen fortwährend schrie: »Haltet den Dieb, haltet den Dieb!«
Eine sehr beliebte und stets opportune Klage ist auch die — die
Regierung unterstütze die Kunst zu wenig. Uns scheint, noch viel zu
viel. Sie kann gar nicht wenig genug von dieser Seite unterstützt
werden, damit sie endlich das werden könne, was sie sein sollte —
eine freie Demokratin!
Aber die meisten unserer Künstler wollen keine self-made-men
sein, sie wollen lieber bequem zur Höhe ihrer Künstlerschaft empor-
protegirt werden, und ein verliehener Franz Josefs-Orden entschädigt
sie reichlich für das bescheidenere Glück innerer Befriedigung.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 224, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0224.html)