Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 223

Wiener Kunst und Kunstkritik (Wilhelm, Paul)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 223

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WIENER KUNST UND KUNSTKRITIK. 223

Was im Auslande an vornehmer, grosser Kunst geschaffen wurde,
ist uns mehr oder weniger fremd geblieben, und eine neue Richtung
hat man bei uns nur vorgeführt, wenn sich Gelegenheit bot, sie in
einzelnen Extremen für alle Zeit zu compromittiren. Die Leitung der
Künstlergenossenschaft wusste ganz gut, dass bei allem Neuen und
Werdenden der Satz gilt: »Der Himmel schütze mich vor meinen
Freunden«, und sie durchschaute wohl den lächerlichen Eindruck,
welchen ein nachempfundener Individualismus machen musste, und gab
darum einer Fluth von Schöpfungen Raum, die mit der modernen
Kunst gar nichts gemein hatten und nichts darstellten als klägliche
Versuche, durch Nachahmung der Aeusserlichkeiten unverstandener
Vorbilder für künstlerische Originale genommen zu werden. So er-
reichte man mit dem Graf’schen »Sancta simplicitas« den Zweck
schlauer Abschreckungstheorie für lange Zeit hinaus.

Für die stürmischeren Vertheidiger der neuen Ideale waren einige
einmalige Abfertigungen, so die Menzel-, Klinger- und Dettmann-Aus-
stellungen, berechnet, ohne dass man damit eine tiefere Absicht ver-
folgte, als jene Schreier endlich zum Schweigen zu bringen.

Auch wenn ein Künstler stirbt, werden die ihm bei Lebzeiten
zurückgewiesenen Bilder zu einer reichhaltigen Auction gesammelt, um
die Zurückgebliebenen vor Noth zu schützen. So müsste manche
Künstlerfamilie den Ernährer verlieren, damit sie zu leben habe.

Und Theodor v. Hörmann? — — —

Aber da fällt mir eben eine kleine Geschichte ein: »In den
Palast eines reichen Mannes kam einst ein Armer, der um Aufnahme
bat. Man hatte ihn schon von mehreren Häusern abgewiesen, und er
war zu Tode erschöpft. Aber der Reiche wies ihn fort. Da brach der
Arme auf der Schwelle zusammen und starb. Und siehe — da handelte
der Reiche »edel«, er liess ihn in seinem Hause aufbahren und legte
einen kostbaren Kranz auf seinen Sarg. — — Und die Kurzsichtigen
und Schwachköpfigen priesen ihn. Aber die Armen alle, die er im
Laufe der Jahre von der Schwelle gejagt hatte, schwiegen und wagten
es nicht, zu widersprechen.«

So sehen die Verdienste unserer Künstlergenossenschaft um die
moderne Kunst aus. —

Warum sehen wir fast nie einen Böcklin, nur hie und da
einen Uhde, warum kennt man keine einzige Zeichnung von Fidus,
nicht die Cartons von Sascha Schneider? Nur hie und da kommen
die grossen Künstler auf spärliche Gastspielrollen, zu einsam, zu ver-
einzelt, um bestimmend oder lenkend auf unsere Kunstbewegung ein-
zuwirken.

Das Verständniss für Offenbarungen tiefster Innerlichkeit, wie es
z. B. die Kindergestalten des Fidus bedeuten, fehlt gänzlich.

Uod doch hat der Stift dieses Künstlers zuerst ahnend ausge-
sprochen, was auch der moderne Dichter bereits empfindet: die Psyche
des Kindes, des halbreifen Wesens, die der nächsten Stufe unserer
Cultur angehören wird. Was aber gibt unsere Kunst dagegen: »Aller-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 223, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0223.html)