Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 222
Text
Wie himmelweit, wie hinter anderen Bergen steht all dem
unsere österreichische Kunst im grossen Ganzen gegenüber. Sie hat
kaum einen Zug jener Grösse in sich, die die Stütze des künstleri-
schen Subjectivismus bildet. Und mit ängstlicher Sorgsamkeit wird Alles
von uns ferne gehalten, was unseren Horizont über den Kreis unserer
heimischen Taktlosigkeiten hinaus erweitern könnte.
Da bekam ich kürzlich ein Buch gesandt: Gedichte von Evers
mit Zeichnungen von Fidus. Ein Blatt fesselte meinen Blick. Es
waren zwei bittend emporgehobene Hände, rührende Hände mit einer
unsäglichen Schmerzhaftigkeit ineinander geschlungen. Ich habe »be-
rühmte« Bilder aus dem Gedächtnisse verloren, die beiden Hände
wollen mir nicht aus der Erinnerung, ich sehe sie vor mir, bei
Tag und bei Nacht. Sie gehören zu dem Mächtigsten, das die tiefe
Symbolik unserer Kunst hervorgebracht.
Ich zeigte sie dem Kunstkritiker eines angesehenen Blattes. Er
fand nichts darin, als eine interessante Actstudie, und gestand »Fidus«,
dessen Namen er zum erstenmale hörte, zu, dass er Talent
besitze. Das ist der schroffe Gegensatz, mit dem unsere Aesthetik an
die Schöpfungen der modernen Kunst herantritt, deren feine subtile
Blüthen vor ihrer kühlen Ueberlegenheit fröstelnd zusammenschauern.
Sie können nur unter dem warmen Odem einer leisen Liebe, einer
künstlerischen Innigkeit gedeihen.
Darum fort mit den Propheten der starren Unpersönlichkeit, fort
mit der Toleranz in künstlerischen Dingen! Man sollte eine strenge
Scheidewand errichten zwischen Malern und Künstlern. Jene wollen
mit klingender Münze gezahlt sein, diese haben ein Anrecht auf eine
tiefere Dankbarkeit.
Darum sollte es Bilderausstellungen geben für Kauflustige und
Kunsttempel für Geniessende. Das echte, grosse Kunstwerk sollte
niemals verdammt werden, im Salon eines Vermögenden zu hängen,
wo es seiner Aufgabe, auf die Menge zu wirken, entzogen ist.
Aber jenes greuliche Gemisch unserer Kunstausstellungen von
künstlerischen Trieben und geschäftlicher Speculation ist entwürdigend.
Man wird mir nun den sehr naheliegenden Einwurf machen,
dass die Künstler ja leben und darum »leider!« auf den Geschmack
des Publicums Rücksicht nehmen müssen. Auf die Gefahr hin, ge-
steinigt zu werden, erkläre ich das für grundfalsch. Zur Kunst ist man
berufen, aber sie ist kein Beruf, den man wählt und ergreift.
Und wir haben ein gutes Recht, in Kunstausstellungen etwas
Anderes zu suchen als Illustrationen des künstlerischen Kampfes ums
Dasein. Dafür wären Kunstbazare eine passende Institution. Da könnte
der Verkehr zwischen Maler und Publicum, Waare und Käufer prächtig
vermittelt werden.
Aber wir haben diesen Kunstbazar — wenn auch noch nicht in
voller Reinheit — bereits in der Lothringerstrasse, ein Gemäldewaaren-
haus, das mit den grossen Regungen unserer Zeit nichts zu thun hat.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 222, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0222.html)