Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 221
Text
die Erfordernisse einer neuen Kunst. Seit sie aus ihrer passiven Stellung
im socialethischen Zeitstreben herausgetreten, hat sie aufgehört, bloss Ge-
nussfactor zu sein. Kunst sollte man heute für Erlösung setzen. Darin
läge das Geheimniss, und danach müsste man den Massstab für ihren
inneren Werth finden.
Die Wellen der Zeit haben uns von den Inseln stiller Beschau-
lichkeit fortgespült, unser Auge ist lange kein bloss empfangendes
mehr, wir wollen mit ihm nicht allein schauen, wir wollen mit ihm
empfinden. Im Genuss eines Kunstwerkes Selbstgestalter sein können!
Das ist der einzig gesunde Egoismus, der, den wir der Kunst gegen-
über stellen. Wir wollen etwas für uns. Etwas Neues, etwas Befreiendes,
Erlösendes! Wir brauchen eine Kunst, die Perspectiven in unbekannte,
aber geahnte Welten eröffnet, eine Kunst, die über das Wohlgefallen
des Auges hinaus ihren Einfluss nicht durch die Doctrine des Ge-
dankens, sondern die Psyche der Empfindung übt. Wir wollen das
Unausgesprochene seelisch aus uns selbst werden fühlen und so allmälig
einer inneren Befreiung und Loslösung entgegenreifen von alledem, das
mit den Entwicklungsphasen der letzten Cultur in uns erstorben ist.
So ist die Kunst nicht Luxus, so ist sie Bedürfniss, und wir haben
ein tieferes Recht an sie als den »guten Geschmack«.
Und darin liegt die Bedeutung des modernen Künstlers, dass er
zuerst ein moderner Mensch sei, das heisst, dass er keinen todten
Ballast mit sich trage, dass er ein reiner Repräsentant der letzten
Cultur sei in ihrer ganzen Hoheit. Dann erst wird er zum modernen
Künstler, indem er das Räthselvolle einer Culturphase begreift, das
das Selbstverständliche der nächsten sein wird. Darin liegt der grosse
erlösende Zug, der sich nicht lehren, nicht predigen lässt, der nur
in tiefgeheimen Empfindungen in uns aufgehen kann.
Wenn man doch ein neues Wort für den Ausdruck »modern«
finden möchte. Er ist so oft compromittirt worden, und auch heute
wird er, gestützt auf die sprachetymologische Ableitung von dem
Stammworte »Mode«, noch unausgesetzt missbraucht und missver-
standen.
»Mode« bedeutet den willkürlichen Wechsel, die »Moderne« aber
ein unwillkürliches Wachsen; jene ändert sprunghaft ihre Formen, diese
aber verkörpert Entwicklungen, deren einzelne Stadien nach den Ge-
setzen einer gewissen Zielstrebigkeit nothwendig einander entwachsen
— sie haben im Gegensatz zum Begriff der »Mode«, die im Aeusser-
lichen, gleichsam in der Toilette der Dinge liegt, ihre Ausgangsfäden
bei tiefinnerlichen Ursachen, die ihre änsseren Wirkungen gebieterisch
bedingen. So ist der moderne Künstler nicht der Bringer, wohl aber
der Künder einer neuen Cultur, die in seiner tieferen Empfänglich-
keit ihre ersten Wurzeln schlägt.
Immer mehr gewinnt denn auch die Kunst in Verbindung mit
den menschlichen Erziehungsaufgaben an ethischer Bedeutung, immer
inniger schmiegt sie sich der Poesie an, dem einfachsten und form-
losesten Ausdruck unseres Seelenlebens.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 221, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0221.html)