Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 250

Literatur und Moral (Prévost, Marcel)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 250

Text

LITERATUR UND MORAL.
Von Marcel Prévost (Paris).
Deutsch von Ludwig Bauer.

»Mein Herr,« sagte zu mir diese dicke Dame, die meinen Stuhl
vom Salon absperrte, »ich liebe die jetzige Literatur nur wenig. Ich
spreche da nicht von den Versen, die uns die Unterhaltungen der Lang-
weile mit dem Schatten, mit dem Schweigen oder gar mit dem Herbst
erzählen — hell klingendes Blech, das man zu tiefen Ausverkaufs-
preisen nach dem Verscheiden der Romantik erstand. Ich spreche nur
von den Romanen und Theaterstücken. Ich verabscheue sie, diese mo-
dernen Romane und Theaterstücke.«

Die dicke Dame unterbrach sich einen Augenblick. Sie wollte mir
eine Bestätigung oder selbst einen unbedeutenden Widerspruch, einen
höflichen Einwand ermöglichen, der ihr Gelegenheit gegeben hätte, das
Gesagte zu bekräftigen, ihre Bosheiten in noch gellenderem Tone zu
schreien. Ich fand nur diese zögernde Entgegnung: »Vielleicht sollten
Sie, gnädige Frau, wenn diese Literatur Ihr Missfallen erregt, mehr die
Ruhe bevorzugen, in der man sie weder liest, noch von ihr hört.«

Sie stiess einen zweiten Schrei aus.

»Nicht lesen, nicht hören! Aber mein Herr, wenn das unmöglich
ist! Die moderne Literatur verfolgt Sie, hängt sich an Sie. Sie thut
Ihnen Gewalt an, wenn ich diesen Ausdruck wagen darf. Man dürfte
weder Zeitungen noch Zeitschriften halten, nicht ausser dem Hause
speisen, keinen Besuch machen, keine Einladung ins Theater annehmen.
Man müsste sich jeder Gespräche mit wem immer enthalten. Ebenso
gut könnte man sich in ein Kloster sperren.«

»Indess, gnädige Frau, es gibt doch gewisse Zeitungen, Zeit-
schriften, Theater —«

Ich setzte keine übertriebenen Hoffnungen auf diesen Einwand.
Die Dame zerriss ihn auch sofort in tausend Stücke.

»Nein, mein Herr, es gibt keine gewissen Zeitungen, Zeitschriften
und Theater. Die Epidemie hat auf der ganzen Linie gesiegt. Früher
boten wirklich derartige ehrenfeste Ueberschriften am Kopfe eines Tag-
blattes oder am Umschlag eines Wochenheftes eine sichere Bürgschaft.
Heutzutage kann man sich auf nichts mehr verlassen. Ein Artikel von
Leroy-Beaulieu über landwirthschaftliche Syndicate ist zwischen die
Erzählung eines liebewahnsinnigen Italieners und einen Roman der
Pariser Pornographie eingeschachtelt. Sie entfalten Ihr Morgenblatt und
erwarten vielleicht Mittheilungen über die türkische Krise — Sie täuschen
sich, schon am Kopfe der Zeitung erzählt man Ihnen die Gefühle einer

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 250, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0250.html)