Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 251

Literatur und Moral (Prévost, Marcel)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 251

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LITERATUR UND MORAL. 251

anständigen Frau nach ihrem dritten Liebhaber. Und die Theater sind
noch ärger. Keiner sorgt sich mehr um einen guten Ruf. Einer nach
dem andern ward vom modernen Wirbel fortgerissen. Wie kann man
bei diesen Zuständen junge Mädchen erziehen?«

Dieser Schlusssatz verblüffte mich. Ich gab der Sprecherin unter
tausend Vorsichtsmassregeln zu bedenken, dass ich mir überhaupt un-
fähig schiene, ein noch so junges Mädchen zu erziehen. Sollte mir aber
gegen alle Möglichkeit eine derartige Rolle zutheil werden, so würde ich
mich hüten, das junge Mädchen mit der gegenwärtigen Literatur oder,
genauer gesprochen, mit irgendwelchen Schilderungen der Phantasie oder
Leidenschaft bekannt zu machen.

»Denn,« bemerkte ich, »keine Literatur kann lebenswahr und zu-
gleich erfreulich und nützlich für Jenen sein, der — voraussichtlich —
das Leben nicht kennt, wie eben das junge Mädchen. Halten wir also
die unschuldige Jugend, Mädchen wie Knaben, von allen Romanen,
Dramen oder Gedichten fern, deren Gegenstand die Liebe der Menschen ist.«

Die dicke Dame zuckte die Achseln.

»Ich glaube nicht, dass Sie diesen Polizistendienst in einem mo-
dernen Haus durchführen können.«

»Dann müssen Sie, gnädige Frau, Ihre Knaben und Mädchen
in sehr streng beaufsichtigte Häuser geben, wie man es früher that.
Agnes kam vollständig unschuldig vom Kloster, und der kleine Racine
musste mit seinem Herzen »Daphnis und Chloe« lernen — denn nur
von dieser Stelle kann man es ihm nicht wegnehmen.«

»Sie wissen ganz gut, mein Herr, dass die streng abgeschlossene
Erziehung von einst für beide Geschlechter vorbei ist. Ein richtiges
Knabenalumnat besteht, um bei der Wahrheit zu bleiben, überhaupt nicht
mehr — dazu haben sich die Ferien viel zu sehr ausgedehnt. Und so
muss es Sache Jener bleiben, die Artikel, Romane oder Theaterstücke
schreiben, daran zu denken, dass ihr Werk einem jungen und un-
schuldigen Wesen unter die Augen fallen oder in die Ohren dringen
kann. Und alle Jene, die das übergehen und achtlos all das, was ihren
Kopf durchkreuzt, niederschreiben, sind öffentliche Verführer — das ist
meine Ansicht.«

Die dicke Dame erhob sich, nachdem sie diese letzten Worte
hervorgesprudelt hatte, sieghaft von ihrem Sessel. Ich dachte, sie wolle
nunmehr, zufrieden mit ihrem Triumph, mich Zerschmetterten verlassen.
Aber sie wollte auch noch eine laute Zustimmung, ein Geständniss
meiner Niederlage.

»Was haben Sie noch zu bemerken, mein Herr?« fragte sie in
einem Tone, der mir deutlich zeigte, dass ihre Kämpferkraft noch lange
nicht erschöpft war.

Ich aber wollte jetzt nicht mehr mit ihr, sondern mit ihrer Ab-
straction, der »idealen dicken Dame« reden, die sich wegen der Un-
moral in der Literatur an sie herandrängt und in schmähsüchtiger
Prüderie die moderne Dichtung verunglimpft.

»Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, gnädige Frau, dass Sie die

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 251, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0251.html)