Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 252
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Fragen ein wenig verwirren. Sie warfen der modernen Literatur gleich
Anfangs vor, sie sei unmoralisch an sich. Dann haben Sie diesen Vor-
wurf plötzlich eingeschränkt und verdeutlicht, indem Sie die Gefahr an-
kündigten, mit der sie die Jugend bedrohe. Diese Verwechslung über-
rascht mich nicht. Man macht sie immer. Stellen wir mit Ihrer Erlaub-
niss eine Reihenfolge in Ihrer freigebigen Entrüstung her.
Zuerst: die Unmoral an sich, die objective Unmoral — wie
unsere Nachbarn jenseits der Vogesen sagen würden. Wenn Sie fähig
sind, die Unmoral in der Kunst zu definiren, haben Sie eine glänzende
Begabung zur Analyse. Aber daran liegt ja nichts. Lassen wir die De-
finition bei Seite, schreiten wir zur Prüfung des Objectes. Ueber dieses
Object nun — ist Niemand in Uebereinstimmung. Dasselbe Theater-
stück, das — wohlgemerkt: gestern — verderblich für die Sitten galt,
wird — wohlgemerkt: heute — vor der Familie gespielt (»Die Camelien-
dame«). Dieselben Romane, die früher in gutgesinnten Bibliotheken zum
Mindesten verpönt waren, man vertheilt sie heute als Preise in den
Schulen (George Sand). Ich habe eine ganze Provinzstadt in lebhafter
Aufregung gesehen, weil der Municipalrath am Corso einen Diskuswerfer
aufgestellt hatte. Andererseits wiederum werden gewisse Werke, die im
vorigen Jahrhundert einfach nur für unterhaltend galten, in diesem als
unsittlich erklärt, unser modernes Schamgefühl würde sich über die
decorativen Freiheiten der Renaissance äusserst empören. Bei diesem
Wirrwarr von Meinungen finde ich nur in den Ansichten der extremen
Partei ein wenig Klarheit. Jedes Kunstwerk ist verderblich, das ent-
weder Nacktheiten oder den heimlichen Verkehr der beiden Geschlechter
an das Licht bringt.
Das wenigstens ist klar. Nur müsste man in diesem Fall so ziemlich
die ganze gegenwärtige Kunst zerstören und jeder künftigen entsagen.
Die Annahme dieses Satzes würde die Absperrung der Literatur vom
Leben bedeuten. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Ich weise Sie auf
ein noch jetzt in vielen Gymnasien verwendetes Werk: »Die Rhetorik«
des Vater Marin de Bylesse. Dieser in seinen Ueberzeugungen erstarrte
und in seinen Folgerungen streng logische Professor endigt schliesslich
mit dem Verbot aller Werke Racine’s, »Athalie« und »Esther« ausge-
nommen. Der ganze Rest, selbst »Mithridates«, ist als schädlich ver-
urtheilt.
Merken Sie sich, dass dieser Jesuit Recht behält, wenn man
nämlich das Princip einer innerlichen Unmoral von Büchern zugibt.
Ein möglicherweise verlockender Reiz birgt sich in jedem Gemälde der
Nacktheit wie in jeder Schilderung einer Leidenschaft. Sir Walter Scott
war in den letzten Jahren seines Lebens durch Gewissensbisse gequält,
weil er die Liebesgluthen eines Templers beschrieben hatte. Und ich
kannte in der That sehr junge Gymnasiasten, die diese Schilderungen
mit gierigen Augen verschlangen und überzeugt waren, dass man in
Schamlosigkeit nicht weiter gehen könne. Auch Lukian erzählt uns ja,
dass gerade der reinste und weisseste aller antiken Marmorarten die
Satyren verlockt habe
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 252, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0252.html)