Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 253

Literatur und Moral (Prévost, Marcel)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 253

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LITERATUR UND MORAL. 253

So glauben Sie es mir denn, gnädige Frau. Unmoral an sich gibt
es bei einem Kunstwerk nicht. Ja noch mehr. Dasselbe Buch kann
jenen erhöhen und diesen erniedrigen, jenen reinigen und diesen ver-
derben. Der heilige Augustin, der vom Wüstling sich zum Heiligen
emporrang, fängt seine »Gottesstadt«, dieses Bekenntniss der Glaubenslehre,
folgendermassen an: »Derjenige, der dieses Buch mit sündigem Geiste
liest, möge nur seiner Seele eigene Verderbtheit anklagen.« Und es ist
wirklich nicht sicher, ob nicht selbst dieses Buch von manchen un-
frommen Sinnes gelesen ward. So unterhalten sich die Lyceumsschüler in
ihrer Pubertätsperiode über sehr tadellose medicinische Abhandlungen,
die sie den glühendsten Romanen vorziehen. Sobald das menschliche
Wesen die Krise der Mannbarkeit erdulden muss, können die harm-
losesten Literaturerzeugnisse »es suggeriren«, wie die Mediciner sagen.
Man mag noch so schöne Worte vom »Engel« machen — die Bestie
erwacht und fordert ihr Recht. Grausamer Zwiespalt — die lauwärmsten
Bücher bethören den Heranwachsenden; die ganz marklosen widern ihn
an. Der entschiedenste Beweis dafür wurde soeben geliefert. Eine für
junge Mädchen bestimmte Zeitschrift befragte ihre Abonnentinnen um
ihre Meinung über die ihnen gebotenen Phantasieproducte. Das Ergeb-
niss dieser Abstimmung war, dass diese jungen Damen die Romane
der Zeitschrift derart blödsinnig fanden, dass sie ihnen die ernsten Auf-
sätze vorzogen. Aehnlich verhindert man die Kinder, sich die Nägel
abzubeissen, indem man ihnen die Finger mit quassia amara einreibt.

Kurz und gut: die Gefahr ist sehr selten im Buch oder Theater-
stück, fast immer im Zustand der »Suggestibilität« des Zuschauers oder
Lesers gelegen. Der erwachsene und gesunde Mensch hat gar kein
richtiges Urtheil über die durch ein Buch bei einem Wahnsinnigen oder
einem Kinde erzeugte Wirkung. Aber — sagen wir die Wahrheit —
die Literatur soll und kann nicht stets an den Wahnsinnigen und das
Kind denken. Sie wendet sich an das Wesen von entwickeltem und
mittlerem Temperament, auf das überhaupt das Kunstwerk keinen morali-
schen Einfluss übt, weil seine sittlichen Gewohnheiten eine ganz andere
Stärke haben als der vorübergehende Eindruck einer Idee oder eines
Schauspiels. Soll ich Ihnen schliesslich meine geheimsten Gedanken ver-
trauen? Die Literatur einer Epoche ist immer moralischer als ihre Moral.
Kein Buch ist so lüstern wie die gewöhnliche Unterhaltung, in der
feinen Gesellschaft sowohl als auch beim Volke. Sie sprechen von der
Jugend und den Gefahren, in welche Ankündigungen und Zeitungsartikel
sie stürzen. Hören Sie doch die Unterhaltungen dieser Gymnasiasten
und Arbeiterinnen, wenn sie unter sich sind!

Die lassen sich gar nicht wiedergeben. Doch gleichwohl gleich-
wohl wird jeden Schriftsteller, der zugleich ein anständiger Mensch ist,
arge Unruhe quälen über die Verleitung zum Bösen, die von seinem
Buche kommt. Die Vernunft kann noch so schön reden: Es gibt in all
diesem nichts Verführendes; es gibt nur deinen klaren Gedanken,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 253, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0253.html)