Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 260

Empfinden der Landschaft (Schmitz, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 260

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260 SCHMITZ.

selbst, dass es hiezu keines anderen Grundes bedarf, als dass
der Himmel in düsterer Schwermuth leuchte und die müden
Linien der Ufer und Hügel sich wie in schmerzlicher Sehn-
sucht dahinziehen. Wozu braucht es da noch der kleinen
Leiden der Ichheit, die uns nie und nimmer gefallen können?
Wir wollen den Linien und Farben lauschen, die uns belebt
und fühlend scheinen. Dies aber ist der Zweck der Mal-
kunst, die durchaus nichts mit Literatur und Allegorie zu
thun hat, eine Kunst, deren göttliches Wesen erst wenigen
Deutschen aufgegangen ist.

Wenn auf dem Bilde »Frühling« die Beiden so still-
froh sind, weil die Bäume so zart knospen und der Fluss
so sanft dahinzieht, weil die Blumen so gelb sind und die
Baumflöte so süsse Töne hat, vor Allem aber, weil man der
ist, der man ist, ein kleines ahnungsvolles Mädchen oder ein
junger, verträumter Knabe, was braucht es dann noch
äusserer Geschehnisse, einer Anekdote? Denn Alles, was
Einzelfälle von Lenzglück stückweise zum Ausdruck brächten,
ist hier in seiner Ganzheit gefasst, insoferne nichts individua-
lisirt, aber Alles möglich gelassen ist.

Dies aber nährt die Malerei der Musik. Sie überwindet
vollkommen das Stoffliche und sucht — Verstand und Ver-
nunft völlig umgehend — allein durch die Sinne Eingang
in unsere Seele, wie jene durch Ton und Rhythmus, so diese
durch Farbe und Linie. Dies aber bleiben keineswegs niedere
sinnliche Reize wie die des Geschmacks, sondern sie werden
symbolisch, das ist ästhetisch, indem sich in ihnen, mit
Schopenhauer zu reden, die Welt als Wille offenbart.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 260, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0260.html)