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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 261

Text

HABERFELDTREIBEN.
Ueber einen internationalen heidnisch-christlichen Kern in den
»Haberfeldtreiben«.
Von Oscar Panizza (Zürich).

Die grobe Unfläthigkeit und starke Lascivität in den oberbayeri-
schen Haberer-Protokollen war immer ein Gegenstand besonderen Auf-
merkens bei dem Culturforscher.

Man war immer erstaunt, bei einem so einfachen, biederen, von
der Cultur wenig beleckten, im Ganzen sittenreinen Stamm, wie den
Altbayern und den Bewohnern des bayerischen Gebirges, eine derartig
starke Betonung und rücksichtslose Hervorkehrung erotischer Be-
ziehungen in ihren Rügewerden, in den »Haberer«-Protokollen ihrer
Sittengerichte zu finden.

Wir sind dergleichen doch eigentlich nur von den Franzosen
gewöhnt, und hier in der denkbar feinsten und geschmackvollsten
Form, während die deutschen Stämme durchwegs eine schon von
Tacitus ihnen zugesprochene grosse Portion von Schamhaftigkeit ver-
hinderte, erotische Beziehungen aufzudecken. Und die Fähigkeit oder
vielmehr Unfähigkeit, erotische Empfindungen glücklich auszudrücken,
oder das sexuelle Leben zum Hauptgegenstand eines ästhetischen Inter-
esses zu machen, ist eigentlich auch heute noch das Signum der deut-
schen Literatur. Wie kommt — frug man sich — eine so urkräftige,
durch keinen Einschuss fremden Blutes verdorbene, bis vor Kurzem fast
abgeschlossen in ihren Beigen wohnende Bevölkerung dazu, in ihrem
Rügeverfahren das Aufdecken von geschlechtlichen Beziehungen direct
zum Hauptgegenstand des Interesses zu machen, und in der Lust,
diese Beziehungen breitzutreten und in grausamer Deutlichkeit bei
ihnen zu verweilen, geradezu zu excediren? —

Bevor wir jedoch der Sache auf den Grund zu kommen suchen,
müssen wir an einige Erscheinungen erinnern, die uns zeigen werden,
dass das Verhöhnen in geschlechtlichen Dingen und das Einander-
Nachstellen der Menschen in sittlichen Vergehen ein internationaler
Gebrauch war, der zum Theil heute noch besteht. So war das Charivari
in Frankreich ein direct obscönes Spiel, eine Radau-Aufführung in
dunkler Nacht, wobei man in Verkleidungen, mit geschwärzten Ge-
sichtern und unter Aufführung eines entsetzlichen Lärms vor das Haus
der Braut oder des jungen Ehepaares, auch der sich wiederverheira-
tenden Witwe zog und unter Absingen zotiger Lieder der jungen
Dame die gemeinsten Anklagen ins Gesicht schleuderte, Anklagen, die
sich nicht auf gewisse Vergehen, sondern einfach auf die Thatsache der

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 261, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0261.html)