Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 268
Text
Von Dr. Carl du Prel (München).
I.
Das Teleskop hat unseren Gesichtssinn erweitert, und diese blosse
künstliche Steigerung eines bereits vorhandenen Sinnes hat eine Wissen-
schaft geschaffen, die in Bezug auf die Sicherheit ihrer Ergebnisse und
ihre Bedeutung für unser Weltbewusstsein den ersten Rang einnimmt:
die Astronomie. Was erst würde geschehen, wenn uns ein ganz neuer
Sinn verliehen würde? Es würde eine ganz neue Wissenschaft ent-
stehen, deren Umfang und Bedeutung aber wir nicht einmal ahnen
können. Nehmen wir an, wir hätten nur vier Sinne, und der des Ge-
ruches ginge uns ab; es lebte aber unter uns ein Mensch, der mit
einem ausserordentlich feinen Geruchssinn ausgestattet wäre. Dieser
Mensch würde Fähigkeiten zeigen, die uns ganz unbegreiflich wären.
Mit verbundenen Augen in einen Garten geführt, würde er die Blumen
bezeichnen können, als den Inhalt einer verschlossenen Schachtel könnte er
Moschus angeben und der Spur eines Vermissten könnte er mit der Sicher-
heit eines Jagdhundes folgen. Die Gelehrten würden sagen, dass solche
Leistungen den Gesetzen der Physiologie widersprechen, dass also jener
Mensch ein Schwindler sei, die Ungelehrten aber würden ihn für einen
Zauberer halten.
In dieser Weise sind auch die Somnambulen beurtheilt worden,
als man ihre merkwürdigen Fähigkeiten kennen lernte. Im Alterthum
hielt man sie für göttlich inspirirt, die Kirche im Mittelalter schrieb
ihnen dämonische Eingebungen zu, und die Gelehrten der Neuzeit
nennen sie kurzweg Schwindler. In Wahrheit aber lassen sich die
Fähigkeiten der Somnambulen naturwissenschaftlich erklären, wenn wir
ihnen einen sechsten Sinn, den für das Od, zusprechen. Die Somnam-
bulen sind aber nicht einmal Ausnahmswesen, denn ähnliche Fähig-
keiten zeigen sich nicht nur in verschiedenen Instincten der Thiere,
sondern auch beim Menschen, sogar im Wachen, wo sie sich als
Idiosynkrasien, als Sympathien und Antipathien geltend machen. Im
Normalzustand bleibt dieser Sinn latent; der Somnambule erwirbt sich
nicht einen völlig neuen Besitz, sondern unterscheidet sich von uns nur
dadurch, dass der odische Sinn bei ihm über die Empfindungsschwelle
gehoben wird, also zu abnormen Kenntnissen Anlass gibt. Diess aber
ist die Grundlage für eine völlig neue Wissenschaft, welche das nächste
1) Wir geben diesen Ausführungen mit der bestimmten Hoffnung Raum,
dass sie auch bei der grossen Mehrzahl Jener Interesse finden werden, die dem
Occultismus ablehnend oder fremd gegenüberstehen. D. Red.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 268, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0268.html)