Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 269
Text
Jahrhundert erforschen wird, in Bezug auf welche aber schon längst
von den Somnambulen als Lehrern Manches ausgesagt worden ist,
was verwerthet werden könnte.
Durch magnetische Striche eingeschläfert, zeigen sich die
Somnambulen, indem ihr sechster Sinn über die Schwelle tritt, odisch
empfänglich und orientirt. In Beurtheilung odischer Verhältnisse sind
sie wie zu Hause, und zwar zunächst in Bezug auf den Magnetiseur,
in welchem sie ihre Odquelle sehen, aus der sie schöpfen können.
Sie sehen und fühlen die odischen Ausströmungen seiner Hände. Eine
Somnambule hielt ihre Hände gegen den Magnetiseur wie vor einem
Ofen, an dem man sich wärmen will, und dann machte sie geschickte
Striche über ihren eigenen Leib.1) Es gilt geradezu von allen Somnam-
bulen, dass sie den animalischen Magnetismus aufs Höchste preisen,
der allein sie gesund machen könne; dagegen sprechen sie durchwegs
sehr respectlos von der Medicin und verwerfen fast alle Medicamente.
Das medicinische System der Somnambulen, in wenige Sätze zusammen-
gedrängt, würde lauten: Das Leben kann nur verliehen werden vom
Leben. Nicht durch Pflege des Leibes und der Krankheitsursachen
oder gar der blossen Symptome kann eine Krankheit gehoben werden,
sondern nur durch Pflege der den Lebensprocess unterhaltenden Kraft,
welche, wenn genügend verstärkt, als Naturheilkraft auftritt und die
Krankheit auch ohne Medicamente beseitigt. Nur die Gesundheit kann
Gesundheit verleihen. Wenn ein Kranker mit einem Gesunden durch
Magnetisiren in Verbindung tritt, findet ein Ausgleich ihrer Lebens-
kraft statt; der Gesunde gibt Lebenskraft ab, der Kranke nimmt sie
auf. In diesen Sätzen ist nur zusammengezogen, was in hundert
Büchern verstreut, als Aeusserung der Somnambulen vorkommt.
Während wir nur unser Gehirnbewusstsein haben, hat der
Somnambule sein Seelenbewusstsein, welches über ersteres hinausreicht.
Die organischen Functionen, die uns unbewusst bleiben, sind ihm be-
wusst. Die in ihm thätige Lebenskraft erkennt er als gebunden an
ihren materiellen Träger, das Od. Der Lebensprocess ist ihm odische
Bewegung; wenn diese in beweglichem Gleichgewicht sich vollzieht,
ist Gesundheit, wenn und wo sie gestört wird, ist Krankheit vorhanden.
Von diesen Bewegungen kann er nicht bloss, weil er sie fühlt, Rechen-
schaft geben, sondern für ihn wie für Sensitive überhaupt sind die
odischen Vorgänge auch noch mit Lichtphänomenen verbunden, er
nimmt also die innere Selbstschau vor, seine Autodiagnose. Die ge-
sunden Organe sieht er leuchtend, die kranken dunkler; nach den
letzteren die Lebenskraft zu leiten und das odische Gleichgewicht
wieder herzustellen, dies erkennt er als das Mittel seiner Genesung.
Er fühlt und sieht also, was wir nicht fühlen und nicht sehen, darum
sind seine Aussagen verlässiger als die des Arztes, dessen Diagnose
nur auf unsicheren Schlüssen von der Wirkung auf die Ursache
beruht.
1) Deleuze: hist. critique du magn. animal. I. 240.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 269, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0269.html)