Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 274
Text
Von Karl Kraus (Wien).
An die schwarz-gelben Grenzpfähle unseres Reiches hören wir
die Wellen der socialen Hochfluth anschlagen, unsere Aufmerksamkeit
jedoch gilt einem gefallenen Comfortableross, das wir staunend um-
stehen.
Jetzt sollen alte Häuser fallen und winkelige Gassen in Avenuen
sich verwandeln. Aber mit dem Bauarbeiter kämpft der Localgenius,
der alles zu vereiteln sucht, und den Vorwurf, Grossstädter zu sein,
weisen wir mit Indignation zurück Unsere Serpolletwagen sind entgleist,
die Automaten functioniren nicht, und die fünf elektrischen Lichter
auf dem Kohlmarkt hüllen den Stadttheil in undurchdringbare Finster-
niss. Schon hat die Polizei die Röntgenstrahlen verboten, und da die
Commune thatkräftig jetzt die Verunreinigung der Strassen in eigene
Regie übernommen hat, kann Wien beruhigt seiner Vergangenheit ent-
gegensehen. Es war nahe daran, seinen Duft und seine Farbe, seine
Stimmung und sein Sperrsechserl einzubüssen. Wir kehren zurück zu
unseren Fiakerkutschern, welche, entgegen allen socialpolitischen Ab-
sichten, die man jetzt auf sie hat, ihr Recht auf Individualität geltend
machen. Was die Tramway betrifft, wird bereits die Forderung nach Wieder-
herstellung der alten Ordnung laut, wobei namentlich die beschäftigungslos
gewordenen Coupletdichter die Ueberfüllung der Waggons zurückwünschen.
Bald wird uns auch das süsse Mädl zurückerobert und wieder in seine Rechte
eingesetzt sein; lange genug musste es in den stillen Gassen unserer Vor-
orte vegetiren und war auf die Barmherzigkeit einiger Jungwiener
Dramatiker, von denen es kümmerliche Tantiemen bezog, angewiesen,
während Neugestalter des Wiener Lebens sich mit der Absicht trugen,
diesen veralteten Typus ganz aufzulassen. Neben ihm und den Fiakern
waren als Culturrepräsentanten jederzeit die sogenannten »Pülcher»
bemerkenswerth, die uns heute regenerirt gegenübertreten. Ausschliess-
lich der antiliberalen Strömung ist es zu danken, wenn diese im täg-
lichen Einerlei der Burgmusik bereits etwas schablonenhaft gewordenen
Figuren mit neuem Lebensinhalt erfüllt wurden, wie denn überhaupt
von dem Beschlüsse des Stadtrathes, die Dummheit zu subventieniren,
eine neue Blütheperiode des Wienerthums datirt.
Schon bläst auf dem Graben der Postillon munter sein Liedchen,
daneben schwankt ein Wasserwagen, dessen Spritzschlauch von einem
Manne ewig hin und her bewegt wird. Durch dieses Strassenbild er-
schreckt, entflieht eine Bicyclistin in eine der Seitengassen
Die Vergnügungen des heurigen Faschings fielen fast durchwegs
mit den Beschlüssen der Gemeinderathsmajorität zusammen, ihren Höhe-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 274, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0274.html)