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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 275

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CHRONIK. 275

punkt aber hat die communale Lustigkeit im Balle der Stadt Wien
erreicht. Der Verlauf des Abends bewies, dass Diejenigen im Irrthum
waren, die sich ein schlecht besuchtes Tanzfest auf dem Vulkan er-
wartet hatten. Die Affaire verlief sehr harmlos, und das Nachsehen
hatte nur Frau Gräfin Kielmannsegg, die, an graziösere Tänzer
gewöhnt, sich bis 12 Uhr am Arme des Herrn Strobach langweilen
musste. Letzterer machte die Honneurs, ohne im Stande zu sein,
dieses Fremdwort auszusprechen. Gleichwohl klappte Alles, und auf-
fallende faux pas waren nicht zu rügen. Herr Lueger hat sich eben
glücklicherweise von seiner Krankheit so weit erholt, dass Herr Stro-
bach bereits ausser Gefahr ist. Wenn man aber an die letzten Wochen
zurückdenkt! Als die Fieberhitze Lueger’s stieg, welch ein Bild der
Zerstörung bot der Bürgermeister, wie wurde er immer apathischer,
sein Zustand immer besorgnisserregender. Nun ist er reconvalescent
und wird sich bald vollends erholt haben, da Dr. Lueger genesen und
seiner Partei wiedergegeben ist. Gleichwohl wird diese über eine
schmerzliche Enttäuschung so bald nicht hinwegkommen können. Eine
alte Chronik ward aufgefunden, die von einer liberalen Ahnmutter des
Herrn Dr. Lueger zu erzählen weiss. Gewissenhafte Forscher studiren
die Publicationen der Akademie der Wissenschaften so eifrig, dass die
Partei allen Ernstes Gefahr läuft, ihre Besten zu verlieren. Was ein
richtiger Antisemit ist, wird in Hinkunft gut daran thun, einem rich-
tigen Antisemiten nur mit Misstrauen zu begegnen. Auf dem nicht
mehr ungewöhnlichen Wege des Quellenstudiums gelang es, schon so
vielen unverfälschten Männern ihr höchst israelitisches Vorleben nach-
zuweisen, dass, wenn sich die Ahnen unserer populärsten Antisemiten-
führer zusammenfinden könnten, dies möglicherweise eine sehr lebhafte
Protestversammlung gegen das von ihren Nachkommen erlassene Hausir-
verbot gäbe.

Den Genüssen des heurigen Carnevals folgen Bussabende, die
man in den Theatern zubringt. So bescherte die Burg ein ein-
actiges Lustspiel, das alle Theaterbesucher zur Einkehr in sich selbst
anhielt und nicht nur durch seinen Titel — »O wie so trügerisch!« —
in eine zerknirschte Stimmung zu versetzen wusste. Dafür wird Herr
Director Burckhardt bei der Aufführung der »Versunkenen Glocke«
wieder die Lacher auf seiner Seite haben. Die Besetzung des «Heinrich»
mit Herrn Hartmann — ein delicater Fastnachtsscherz, der nur
leider etwas post festum kommt. Der erbitterte Rollenkrieg, der zwischen
Hietzing und Cottage geführt wurde, ist beendet. Frau Reinhold hat
über Altmeisterin Hohenfels gesiegt und wird das «Rautendelein»
spielen, obwohl gerade dieser Partie die unvergleichliche Erfahrung
zu statten gekommen wäre, die Frau Hohenfels im Jungsein besitzt.
Was den Heinrich betrifft, so ist das Burgtheater heute in der Lage,
ihn entweder durch Herrn Robert röcheln oder durch Herrn Hart-
mann verschlucken zu lassen. Herr Burckhardt, hinter dessen Rücken
die definitive Besetzung der Hauptrollen vorgenommen ward, erfuhr
die Entscheidung aus den Zeitungen und soll besonders auch auf

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 275, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0275.html)