Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 276
Text
Lewinsky als Nickelmann und Herrn Römpler als Pfarrer gespannt
sein. Man hofft, Director Burckhardt werde den natürlichen Wirkungs-
kreis eines Zuschauers, in den er wichtigeren Werken gegenüber ver-
wiesen erscheint, ohne erhebliche Störungen ausfüllen, wiewohl er an
Theaterroutine sich mit keinem unserer Galleriebesucher messen könnte.
Während Herr Hartmann mit seinem Heinrich im Lande bleibt,
beabsichtigt Herr Reimers als Faust die deutsche Schauspielkunst in
Paris zu compromittiren. Dies ist die erste That, die das Lothar-
Bonn’sche Unternehmen in der französischen Hauptstadt verheisst. Bedarf
es körperlicher Stärke, um deutscher Kunst auf fremdem Boden Bahn
zu brechen? Es gibt noch athletischer veranlagte Männer in Wien. Man
sollte Herrn Reimers gerade jetzt mit aller Macht an das Burgtheater
fesseln und ihm alle Gastspielspläne auszureden suchen. Seit Jahren
bemühen wir uns doch, den Mann vor dem Auslande zu verbergen,
damit ja kein Fremder erfahre, wie Romeo und Antonius bei uns
gespielt werden. Was Herrn Reimers betrifft, sind wir Chauvinisten.
Auch keinen der classischen Schauspieler des Raimund-Theaters möchten
wir uns nach Paris entführen lassen, trotzdem sie hier kaum gewürdigt
werden: eine auffallende Blasirtheit trägt unser Publicum zur Schau,
welches kürzlich bei »Othello« nicht mehr lachen konnte. Aus dem
Raimund-Theater, das die gegenwärtige Leitung längst zugrunde ge-
richtet hätte, wenn es nicht die Abwesenheit Müller-Guttenbrunn’s noch
aufrecht hielte, kommt übrigens die Nachricht, Graf Bombelles habe
sein neuestes Stück mit grossem Erfolge zurückgezogen.
Ein anderer Dramatiker, dem aber weniger Geburt als Besitz das
Recht freier dichterischer Bethätigung verschafft, Herr Moriz v. Gut-
mann, schrieb eine Hohenstaufen-Tragödie, die ein Berliner Theater-
director kürzlich in Scene gehen liess. Zu einer Zeit, da die Wirkungen
des Börsenkrachs noch immer nicht verschmerzt sind, berührt das
Beispiel unentwegten Reichthums doppelt erfreulich. Mit der Aufführung
seines Dramas hat Gutmann den vollgiltigen Beweis erbracht, dass sein
Talent durch die verderbliche Deroute nicht erschüttert worden ist,
und so kann man alles Lob, das ihm in Berlin gespendet wurde, für
baare Münze nehmen. Das Werk hatte, wie wir den Depeschen des
Dichters in den Wiener Blättern entnehmen, begeisterten Erfolg, und
die Einwände der Berliner Kritik verstummten vor dem dichterischen
Vermögen des Autors.
Ein Bild rührender Selbsterkenntniss haben einheimische Künstler
für die kürzlich eröffnete Plakatausstellung geliefert. Neben französischen,
englischen und deutschen Malern, die ihre Kunst in mercantilische
Dienste stellen, kein einziger Wiener! Da es vermuthlich keinem aus-
ländischen Chokoladefabrikanten einfallen wird, für Reclamezwecke den
besten unserer Meister heranzuziehen, haben letztere allen Grund zur
Vornehmheit und können mit dem stolzen Bewusstsein schaffen, nicht
von unkünstlerischen Nebenabsichten, sondern von reiner Talentlosigkeit
geleitet zu sein.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 276, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0276.html)