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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 278

Text

278 KRITIK

hätte nie vom Spielplane unserer
Hofoper verschwinden dürfen.
Anders verhält es sich mit dem
von Dr. Rob. Hirschfeld in geist-
reicher Weise bearbeiteten »Vier-
jährigen Posten«. Das ist eine von
den schwächeren Jugendarbeiten
des damals 18jährigen Meisters,
die nur durch sehr liebevolle Be-
handlung und ganz ausgezeichnete
Wiedergabe auf der modernen
Opernbühne zur Wirkung kommen
kann. Die bekannten massgebenden
Persönlichkeiten haben mit dem
ihnen eigenen Scharfblick sofort
erkannt: damit sei kein »Geschäft«
zu machen; die Pflicht aber gebot
die Aufführung, und der nun ent-
standene Hass gegen das Werk
documentirte sich durch die Be-
setzung der Hauptrolle mit Fräulein
Abendroth — eine Thatsache, die
für jeden Musikfreund einen ver-
lorenen Abend bedeutet. Niemals
noch verstand es eine Sängerin
so gut, den Zuhörer durch ihre
Kunst in einen Zustand peinlichster
Nervosität zu versetzen und, wenn
ein hoher Ton in ihrem Parte
naht, im Partiturkundigen nach
echt dramatischer Norm Furcht
und Mitleid zu erwecken.

H. K—r.

Placatkunst. Das Künstler-
haus hat eine Placatausstellung. Wir
wollen gerne anerkennen, dass sie ein
Verdienst bedeutet, das wir freudig
begrüssen, umso lieber, als wir erst
kürzlich Gelegenheit nahmen, unsere
Wiener Kunstverhältnisse auf’s Ener-
gischeste zu tadeln. Abgesehen von
der Fülle originellen Schaffens und
sprudelnden, wenn auch formlosen
Geistes, die uns aus diesem Raume
entgegenleuchtet, ist der Haupt-
eindruck dieser Exposition wieder
die Empfindung, wie sehr man uns

überall voraus ist. Wie ein schreien-
des, lärmendes Placat, das die
moderne Cultur anpreist, sieht diese
Ausstellung aus. Sie meldet uns
von der grossartigen Entwicklung,
welche dieser Zweig der dem Ob-
ject dienenden Kunst in den
letzten Jahren durchgemacht. Das
Hauptverdienst, die Placattechnik zur
Höhe eines subjectiven Kunst-
schaffens emporgehoben zu haben,
gebührt dem Franzosen Cheret. In
der Vereinfachung der bis dahin
ungemein schwerfälligen Technik
des Reproductionsverfahrens er-
schloss er dem Placat die Fähig-
keit zu einer selbst die Grenzen
der Malkunst überschreitenden Sub-
jectivität. Das Placat ist kein Kunst-
werk im engsten Sinne des Wortes.
Was es uns zu sagen hat, sind
trockene Thatsachen, sind leblose
Dinge. Aber seine tiefere Bedeutung
liegt in der Anwaltschaft der be-
seelten Kunst für das seelenlose
Ding, für die Waare, für Genuss-
artikel, manchmal, allerdings seltener
auch für geistige Schöpfungen. Es
ist nicht seine Aufgabe, zu erläu-
tern; seine ganze Kraft liegt in
der Wirkung des Augenblicks.
Darum keine harmonische Gliede-
rung, kein künstlerischer Aufbau,
keine mühsame Selbstgestaltung,
auch nicht jene künstlerische Ab-
sicht, zu überzeugen, welche zu
den Werthmessern des Kunstwerkes
gehörten. Darum auch nicht jener
künstlerische Selbstzweck, sondern
der offenbekannte Kampf um
das Interesse des Publicums.
Die Placatkunst ist die Cocotte
unter den bildenden Künsten. Und
im innersten Verständniss ihrer
Art hat auch Cheret zumeist die
leichtfüssige Chansonnette zur Muse
seiner Composition gemacht. Sie

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 278, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0278.html)