Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 259

Empfinden der Landschaft (Schmitz, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 259

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EMPFINDEN DER LANDSCHAFT. 259

die attischen Gestade zur Zeit atheniensischer Grösse erstehen
lässt, sondern einen Jüngling, den die Sehnsucht dorthin ver-
klärt. Darin sind wir der Romantik nahe. Wir würden das
Nirwana nicht ertragen können, weil unsere Nerven die
Keuschheit verlernt haben.

Die Natur ist uns weiblicher Art, wir wollen nicht ihre
unbedingte Nacktheit schauen, viel mehr lieben wir sie, wenn
sie der Schleier der Maja noch halb verhüllt, wenn uns noch
etwas zu erhoffen übrig bleibt. Wir sehnen uns nach der
Sehnsucht, wir begeistern uns für die Begeisterung.

Zweimal bereits wurde in diesen Zeilen Hans Thoma’s
gedacht. Er, den viele altmodisch, nach veralteten Werken
zurückgreifend nennen, ist derjenige, welcher jener poetischen
Sehnsucht der modernen Seele am meisten entspricht. Er
vermag seinen Werken jenen Dichtzauber zu verleihen, der
der classischen Ruhe und romantischen Bewegung so ent-
gegengesetzt ist, dem nur einer bisweilen nahe kam, nämlich
Moritz v. Schwind. Doch dieser haftet noch sehr an den
Schicksalen des Einzelnen, in welche höhere Mächte ein-
greifen. Aber bei Thoma gibt es fast keine Nixen, Zwerge
oder Alräunchen mehr, welche nur leere Allegorien, das
heisst der kalten Vernunft entstammende Begriffe darstellen.
Thoma gibt sinnenfällige Symbole in Linie und Ton, welche
von der frohen Anschauung erkannte Ideen (im Sinne der
Schule Plato’s) bedeuten. Das, was Schwind (gleichwie Böcklin)
durch Fabelwesen ausdrücken will, das Tiefbelebte, das
Ueberallsein des Göttlichen, das, was uns beim Flüstern der
Baumwipfel und beim Rauschen der Wasser erschauern
macht, das ist nun ganz aufgesogen von den Dingen selbst,
das spricht nun aus den Linien und Farben der Bäume,
Flüsse und Thäler.

So verstehen wir die grosse Sehnsucht des herrlichen
Knaben, der einsam auf einem Felsen sitzt am Meeresge-
stade. Leblos erstreckt sich die blaue, unerbittliche Fläche.
Aber wir verstehen das Leben, welches in jenem schweigenden
Scheintod liegt, wir verstehen es, ohne dass sich die Geister
der Einsamkeit etwa in Meergottheiten materialisiren. Und
so ist es auch auf dem Bild des einsam-traurigen Hirten.
Warum er traurig ist, fragen wir nicht. Wissen wir doch

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 259, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0259.html)