Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 258

Empfinden der Landschaft (Schmitz, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 258

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258 SCHMITZ.

Wir suchen das Poetische, womit nicht gesagt sein soll »das
Literarische«. Auch ist uns der Werther recht aus dem
Herzen geschrieben, und Bilder, wie das des Brunnens vor
dem Dorf, wohin des Abends die Mägde kommen, um Wasser
zu schöpfen, können uns entzücken. Es liegt etwas von
Thoma über dieser Dichtung.

Und noch eines: Die Schicksale berühren uns nicht,
nur die Linie oder der Ton. Wir haben nie gefragt, was die
verhüllte Frau vor der Villa am Meer bewegen mag. Doch
fühlen wir die Wehmuth ihrer Linie und die endlose Trauer
der Landschaft. Auch uns mögen alte englische Schlösser
mit vergessenen Krypten und gewundenen Verliessen Schauer
erwecken, doch fragen wir nicht nach dem armen Gefan-
genen, der hier schuldlos verschmachtet, vielmehr wandeln
wir durch den welken Park und suchen bemooste, halbzer-
bröckelte Steinbänke auf, ob uns vielleicht aus der Däm-
merung ein weisser Pfau entgegenträte. Es scheint, dass
wir an der Oberfläche haften, weil wir »nur« Erscheinungen
gewahr werden. Aber dies »nur« ist vielleicht unsere Tiefe.
Was bedeuten Schicksale der Einzelnen, die dem, der nach
Lebensklugheit trachtet, für den äusseren Verlauf der Dinge
lehrreich sein mögen, dem, der sich mit der Lehre von der
Gesellschaft und der Sitte befasst, mit dem Bedingten. Viel-
leicht dürfte uns mehr, als es das Beobachten zufälliger, selt-
samer Verschlingungen vermag, wie sie die Romantik liebt,
das Schauen des Wechsels von Farben und Linien, von
denen die Geschehnisse nur mögliche Auslegungen sind, und
des Unwandelbaren in ihnen den ewigen Beziehungen näher
rücken, einem höheren Sein, welches Gott ist.

Darum ist unsere Art so aussermoralisch, so unspecu-
lativ und undialectisch. Wir suchen die Schauer, welche die
Inder empfinden, wenn sie sich in die Betrachtung der
Gottheit versenken. Wir suchen eigene Nervenreize, aus deren
sinnlicher Ordnung wir, gleichsam wie aus Symbolen, ein
tieferes, unbedingteres Leben ahnen. Darum sind wir so un-
stofflich und so durchaus künstlerisch.

Doch dies müssen wir uns gestehen: Es ist weniger der
Friede selbst, den wir erstreben, als dass uns das Sehnen
nach jenem Frieden süss erfüllt, gleich wie Hölderlin nicht

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 258, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0258.html)