Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 257
Text
so wenig liebte, das Jähe, seltsam Verkettete, Abenteuerliche,
das Pittoreske.
Wie aber sind wir geboren, Nachkömmlinge einer
späten Zeit? Sind wir Greise, weil wir die Wildheit verab-
scheuen, oder Jünglinge, doch von feinerer Art, mehr von
den zarten Händen der Mutter geleitet, die wir nicht ver-
gessen können? Zu uns flüstern die ungewissen Töne der
Dämmerung, das Zweifellicht von Tag und Nacht, während
das Geschrei einer Hochgebirgslandschaft unsere Sinne
stumpf macht, ein »Zuviel« gibt für unsere Empfänglich-
keit, ein Gefühl, das man gemeinhin »erhaben« nennt. Oder
haben wir etwas Weibliches in uns, weil wir die sanften
Linien des stummen Holland suchen, weil es uns erfreut,
am Sommernachmittag nach dem lieben Bucksloot zu fahren,
wo kleine bunte Giebelhäuser beisammenstehen, wie sie
Vermeer malte, wo sich endlose Wiesen erstrecken, auf denen
Potter’sche Thiere weiden im feuchten Sonnenglanz, der
nach dem Meere duftet, weil uns, wenn wir in der Dämme-
rung heimkehren, die leis verschleierten Strassen Liebe er-
wecken, wenn wir an den vielfach verschlungenen Grachten
entlang gehen, zwischen mageren Bäumchen, etwa in Dord-
recht oder Delft? Auch scheinen uns die grünen Voralpen
heimatlich und die blau verschwommenen Sabinerberge und
das deutsche Mittelgebirge mit seinen umbuschten Weilern
und Birkenstämmen, wie es Thoma malt. Zwar nennt man
uns Romantiker, weil wir das Seltsame lieben, wir nennen
uns wohl gelegentlich selbst so, aber mehr um unserer
Weltfernheit willen, im Gegensatz zu den Naturalisten. Doch
gesetzt, dass Naturalismus überhaupt nicht Kunst ist, bleibt
alle Kunst dieser Welt fern, nämlich eine eigene Welt. Auch
wir zwar hören gern die Tempel von Nepal und Ellora er-
wähnen, und wir lieben den Gedanken, dass irgend fern bei
blassem Sonnenuntergang schlanke, braune Mädchen zum
Brunnen gehen, mit edlen Gefässen auf dem Haupt. Dagegen
ist uns das Hidalgohafte, Banditenartige der Romantiker vom
Grund verhasst. Viel mehr sagt uns noch das stille Sonett
eines dorischen Tempels, ob es uns gleich ein wenig be-
fremdet. Wir suchen in der Landschaft keine Leidenschaft,
es ist mehr eine anmuthige Melancholie, eine Sehnsucht.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 257, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0257.html)