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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 286

Text

286 JANITSCHEK.

»Sie mochte Thora nicht zur Hand sein, sondern tanzte und sang
draussen umher. Gegen Mittag kam Svend vom Bernsteinhof herüber.
Was habt ihr für ein Tiriliren im Hause? fragte er. Ist’s ein Vogel
oder eine Flöte, die da singt? Kein’s von Beiden, sondern meiner
Grossmutter Bruderkind ist’s, das da singt, sagte ich und deutete auf
sie. Sie kam eben herbei. Vater folgte ihr. Er hob die Faust auf, sie
aber fiel ihm in den Arm und bettelte, dass er ihr nichts zu Leid
thue. Sie fuhr mit der Hand über seine Wange und lächelte ihn an.
Da wurde er ganz still. Svend ging ins Haus. Mein Vater sagte: Die
Wellen können aber doch lauter singen als du. Mir kam vor, er hätte
aus dem Keller heraufgesprochen, weil es so tief klang. Aber er stand
neben ihr. Da rief sie: Das möchte ich versuchen. Ich muss hinaus-
fahren, sagte er hierauf und ging vor das Haus. Sie bat: Nimm mich
mit! Er antwortete nicht, hob sie aber ins Boot und ruderte hinaus.«

Es ist todtenstill, als der Knabe ausgesprochen hat. Vom Herde
kommt ein geheimnissvolles Raunen und Flüstern, und der Wind schlägt
ans Fenster.

Da dröhnt es draussen im Flur wie von schweren, schlürfenden
Tritten.

»Ulf,« murmelt der Greis. Niemand wagt aufzustehen, obgleich
sie ihr Essen beendet haben. Eine lange Pause.

Die Schritte sind verstummt, Alles bleibt still draussen.

»Ulf!« ruft der Alte mit mächtiger Stimme. Keine Antwort. »Hole
deinen Vater!« Der älteste Knabe erhebt sich gehorsam und eilt hinaus.
Auch er kehrt nicht wieder. Und nun stehen Alle zugleich auf, wie
unter einer plötzlichen Eingebung. Ohne ein Wort zu wechseln, treten
sie hinaus, zuletzt mit gesenktem Kopf die Mutter der Kinder. Nur
Thorwalt bleibt bewegungslos auf seinem Platze sitzen.

Von draussen dringt geheimnissvolles Flüstern herein, als ob
keiner wagte, laut zu sprechen. Dann öffnet sich schwerfällig die
Thüre. Ulf tritt herein.

Seine Kleider tropfen, sein Gesicht ist weiss wie der Schaum auf
den Wogen draussen. Er bleibt beim Eingang stehen, ohne die Kraft
oder den Muth zu finden, näher zu treten. Thorwalt erhebt sich.

»Wo ist die Dirne?«

»Das Boot ist gekentert, sie ist ertrunken.«

Aus dem schneeweissen Gesichte richten sich zwei starre, brennende
Augen in die des Alten.

Der entgegnet nichts, streicht sich durch den Bart und schreitet
langsam hinaus.

Ulf ist allein. Seine Blicke suchen einen Stuhl am Tische, dann
schleppt er sich vor den Herd und blickt in die Flammen. Sie steigen
ruhig und kerzengerade empor.




Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 286, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-08_n0286.html)