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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 285

Text

STUMMER KAMPF. 285

»Ihr trauriges Zwitschern. Selbst in der Nacht. Gestern kroch ich
zu Radulph aufs Lager und schwatzte mit ihm, um die ängstlichen
Laute nicht zu hören. Was soll ich thun? Sie werden allesammt zu-
grunde gehn.«

Ulf starrte wie geistesabwesend auf den Platz gegenüber am
Tische.

Der Alte sagte: »Nimm den fremden Vogel aus dem Neste.«

»Dann stirbt er aber, denn er kann noch nicht fliegen.«

»Lass ihn sterben.«

»Nein!« schrie Ulf wie erwachend auf, »nein, er soll nicht
sterben!«

Aus des Greises Augen flammte ein Blitz.

»Geh fort, Bube!« rief er dem Jungen zu.

Dann standen die beiden Männer einander gegenüber. Sie sahen
sich in die Augen. Ulf legte die Hand über die seinen. — — —

Als er aufblickte, war der Alte verschwunden. Er stand allein
in der weiten Stube.

Die Flammen auf dem Herde brannten nicht aufwärts, sondern
schlugen zur Seite wie in irrer Flucht. — — —

II.

Andern Tags gegen Abend.

Vor dem kleinen Fenster bäumt sich ein grünliches Gespenst
und winkt und droht mit huschenden Händen. Die See ist in unheim-
licher Erregung. In der braunen Stube sitzen die Leute am langen
Tische und verzehren schweigend ihr Nachtmahl. Das Herdfeuer wirft
Ungewisse Lichter um sich. Bald loht’s durch den Raum wie sinkender
Sonnenschein, bald hüllt Dämmerung Alles in fahle Schatten, bald ruht
auf des Einen oder Andern Haupt ein flimmernder Glanz. Sie schweigen
und essen, wie sie gestern und vorgestern thaten. Oben am Kopfende
des Tisches sitzt der Alte, wie er vor fünfzig Jahren schon sass, mit
unbeweglichem, steinernem Gesicht, in dem nur die Augen zu leben
scheinen, ein unergründliches, von Niemand verstandenes Leben.

Drei Stühle am Tische sind leer.

Der der Todten, Ulfs seiner und jener der jungen Dirne.

Der Greis sieht die Leute entlang.

»Wo ist Ulf?«

»Er ist vor etlichen Stunden mit seinem Netze hinausgerudert,
Vater.«

»War er allein?«

»Nein, Vater, deiner Frau Bruderkind war mit ihm.«

Das grobknochige Weib mit dem herben, demüthigen Gesichte
neigt sich wieder über den Teller. Der Greis schweigt und streicht
langsam durch seinen niederwallenden Bart. »Weshalb ging die Dirne
mit ihm?«

Die Frau weiss keine Antwort zu geben, aber ihr jüngster Bub
weiss eine.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 285, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-08_n0285.html)