Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 284
Text
Wieder das fremdartige Wort!
Die grobknochige Frau mit den herben Zügen senkte den Kopf
tiefer auf ihren Teller. Die Kinder öffneten die Lippen zu einer leisen
Frage an ihren Vater, verstummten aber erschreckt bei seinem Anblick.
Seine Augen hingen an den rothen Lippen des Mägdleins mit einem
Ausdrucke, der ganz fremd an ihm war.
»Ich werde nun wohl immer bei euch bleiben. Aber ihr sollt
euch freuen an mir. Vater hat mich die Mandoline spielen gelehrt und
singen kann ich auch, auch tanzen.«
Sie sprang auf, nahm ihren ärmlichen Rock zierlich zwischen
die Fingerspitzen und begann sich im Kreise zu drehen. Aller Augen
hingen wie gebannt an ihr.
Da knarrte der Stuhl oben am Tische.
Der Hausherr hatte sich erhoben.
Seine Gestalt schien noch grösser und mächtiger als sonst
zu sein.
»Führt die Kleine auf ihre Schlafstelle. Der Schluck Bier, den
sie trank, ist ihr in den Kopf gestiegen.«
Eine Magd trat heran und gab ihr einen Wink. Sie legte die
Finger an die Lippen, warf eine Kusshand hin, lächelte Alle an und
folgte der Voranschreitenden. Die Dienstboten erhoben sich, ebenso
die Andern.
Nur Ulf blieb sitzen und starrte auf ihren Stuhl hinüber. Plötz-
lich legte sich eine Hand auf seine Schulter. Er sprang auf. Sein Vater
stand mit unbeweglichem Gesichte vor ihm und sah ihn an.
»Mir ist, als hätt’ ich geträumt,« stotterte der Sohn.
Seine vier Kinder und seine Frau waren demüthig hinter seinem
Stuhl versammelt, damit er ihren Gutenachtgruss erwidere. Er murmelte
etwas zwischen den Zähnen. Der Blick des Alten, der wie eine Flamme
auf ihm ruhte, raubte ihm fast die Besinnung.
Da, als die Andern im Fortgehen waren, trat sein ältester Bube
nochmals vor ihn.
»Vater!«
»Was willst du?«
»Ich glaube — ich weiss nicht — ich fürchte mich vor der
Nacht.«
»Was hast du gethan?« fragte Ulf finster.
»Ich spielte in dem Felsen am Strande, da —« Der Junge
stockte.
»Rede die Wahrheit,« sagte Thorwalt und legte, seine Hand auf
den blonden Kopf des Knaben.
»Da sah ich ein Ei in einem verlassenen Nest. Ich legte es der
Schwalbenmutter unter. Sie brütete es aus. Ein kleiner, fremder Vogel
ist aus dem Ei gekrochen. Aber seither zanken sich die Alten immer
und flattern umher, anstatt bei den Jungen zu bleiben. Sie werden
allesammt erfrieren müssen. Ich hör’ ununterbrochen —«
»Was denn, was hörst du denn?«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 284, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-08_n0284.html)