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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 283

Text

STUMMER KAMPF. 283

Sitten noch nicht, so will ich dich heute entschuldigen. Dieser Stuhl
da ist der meiner Frau. Sie ist vor zwei Wochen gestorben. Er soll
zu ihrem Andenken noch stehen bleiben.«

»Habt Ihr sie sehr lieb gehabt?« zwitschert’s wieder von unten.

Ulf wirft einen erschreckten Blick auf die Fragerin. Ihre Augen
begegnen mit strahlender Wärme den seinen.

Der Alte oben am Tische streicht sich durch den weissen Bart.
»Sie war ein braves Weib. Kein Tag ging ihr nutzlos vorüber. Sie hat
Gott gefürchtet und ihre Kinder in seiner Zucht erzogen. Sie war mir
eine gehorsame Gefährtin. Selbst als ihr jüngster Bruder, dein Vater,
ihr den Kummer bereitete, in ein fremdes Land zu ziehen und sich
eine Frau aus fremdem Blute zu nehmen, verlor sie nicht ihre Ruhe.«

»Ach, wenn er noch lebte, der gute Vater! Er war so lieb und
schön. An Mutter erinnere ich mich gar nicht. Sie starb, als ich noch
ganz klein war.«

»Ein Glück.« Hat es Jemand geflüstert? Die Anwesenden sehen
einander betroffen an.

»Und der Vater lehrte mich euere Sprache. Ich konnte mich mit
den anderen Kindern fast gar nicht unterhalten, die nur italienisch
reden. Wenn der Vater auf Fischfang hinauszog — du, warum ist denn
euer Meer so hässlich graugrün?« wandte sie sich plötzlich an Ulf, der
Alte schien ihr zu weit zu sitzen. »Das unsere ist ganz, ganz blau und
so lind. Du meinst, in lauter weiche Blumenblätter zu sinken, wenn du
in seine Wasser tauchst, du das ist dir schön! Und am Abend, wenn
man hinaussegelt, die grossen Sterne, die spiegeln sich wieder in der
Fluth, und dann hast du zwei Himmel, den einen oben und den andern
unter dir, und weiche Mandolinenklänge klingen vom Ufer herüber und
lassen dich glauben, du hörtest die leisen Stimmen der Engel. Dann
kommt wohl Einer oder der Andere im Nachen dir nach, bindet sein
Schifflein an deines, steigt zu dir herüber, legt den Arm um dich und
flüstert dir etwas Liebes ins Ohr. Und bunte Lämpchen zünden sie
an und essen bei ihrem Rosenschein Confetto, und schenken einander
Blumen und Küsse «

»Wie alt bist du, Dirne?« klang es vom Kopfende des Tisches
herab.

»Sechzehn, Väterchen.«

Ulf hatte den Arm auf den Tisch gestützt, das Haupt darauf
gelehnt und starrte mit grossen Augen auf das schwätzende Mägdlein.

»Und du hast wirklich Niemanden in Spezia? Hat deine Mutter
denn keine Verwandten gehabt?«

»Nein, Niemanden. Deshalb sagte mein Vater, bevor er starb:
Unten an der nordischen Küste, sagte er, bei Thorwaltshavn, lebt
meine Schwester. Geh’ zu ihr, sie wird dich aufnehmen. Hier will ich
dich nicht allein wissen, sagte er. Ich verkaufte Alles, was wir besassen,
als er todt war, und kam hierher. O, er war so süss! Keinmal kam er
nach Hause, ohne mich an seine Brust zu ziehen und zu küssen. Wir
hatten einander schrecklich lieb.«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 283, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-08_n0283.html)