Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 288
Text
Von Pierre Véber (Paris).
Autorisirte Uebersetzung von Clara Theumann.
Sam ist sehr bestürzt — — — — — — —
Er hat nie etwas gelesen; es ist nicht seine Schuld, es
hat ihm an Zeit gefehlt. Uebrigens hat er, um keine un-
vollständige Bildung zu besitzen, sich der literarischen Be-
wegung der letzten vierzig Jahre lieber ganz ferne gehalten.
(Die vergangenen Jahre gehen nur die Nachwelt etwas an;
damit hat Sam nichts zu thun.)
Nun soll er unverzüglich bei einem gemeinsamen Freund
mit Paul Hervieu, dem berühmten Romancier, zusammen
speisen.
Sam kennt die Gebräuche; er weiss sehr gut, dass ein
wohlerzogener Mensch einem Schriftsteller gleich bei der
ersten Begegnung sagen muss: »Oh, gewiss — — — — ich
kenne den Herrn — ·— — — dem Namen nach selbst-
verständlich; ich bewundere sein schönes Talent. Ich habe
sein Buch gelesen! Das ist hübsch!«—————Und dann
muss er, um den Beweis zu erbringen, Einiges citiren.
Sam hat nicht Zeit, erst Paul Hervieu zu lesen.
Wozu auch? Es gibt da Leute, Kritiker benamset, die
einem ganz fertige und sehr angemessene Urtheile um ein
Billiges verkaufen. Die werden gewiss etwas über Paul
Hervieu haben und Sam gründlich berichten. Ein bischen
Gedächtniss und immer nur hübsch beim Allgemeinen bleiben,
dann wird’s schon gehen!
Sam nimmt also eine Sammlung »Charakterköpfe« von
dem Nadar der zeitgenössischen Aesthetik; da liest er:
»Paul Hervieu ist ein schärferer, obgleich weniger spontaner
Daudet.«
Das ist allerdings klar, wenn man Daudet gelesen hat;
wird er nun Daudet lesen? Er hat ja keine Zeit! Er wird
sich also an den Artikel des berühmten H..... halten.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 288, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-08_n0288.html)