Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 290

Blauer Falter Abend (Grazie, M. E. delleRilke, René Maria)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 290

Text

BLAUER FALTER.

Ein blauer Falter gaukelt
Um einen Lindenbaum —
Der wiegt sich leis’ und schaukelt
Die Zweige wie im Traum,
Die blüh’nden Zweige.

Sie schwanken hin und wieder
Vor einem Kämmerlein,
Drin liegt in weissem Flieder
Ein todtes Kind allein
In weissem Flieder.

Er fiel aus kleinen Händen
Herab wohl auf die Leich’ —
Die Sonn’ geht an den Wänden
So lautlos und so weich —
Der Tag rückt weiter.

Und mitten in dem Kreise,
Dem mag’schen Zauberring
Von Licht und Tod tanzt leise
Der blaue Schmetterling —
Im Kreis’ im Kreise

Wien. M. E. delle Grazie.


ABEND.

Die Nacht holt heimlich durch des Vorhangs Falten
Aus deinem Haar vergess’nen Sonnenschein.
Schau’, ich will nichts, als deine Hände halten
Und still und gut und voller Frieden sein.

Da wächst die Seele mir, bis sie in Scherben
Den Alltag sprengt; sie wird so wunderweit:
An ihren morgenrothen Marken sterben
Die ersten Wellen der Unendlichkeit.

München. René Maria Rilke.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 290, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-08_n0290.html)