Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 294
Text
Von Sar Josephin Peladan (Paris).
— — — — combien j’aime
Ce tant bizzare Monsieur Rops
Qui n’est pas un grand prix de Rome,
Mais dont le talent est haut, comme
La pyramide de Chéops.
Baudelaire.
Zeitgenosse sein! Das heisst die Gefühle und das Gehaben seiner
Zeit, ihr Denken und ihr Wesen sich erklären; ihre symbolische Be-
deutung erfassen und die Entstehung ihrer Ideen sowie deren nächste
Erscheinungen schauen; sein Zeitalter lieben, ohne vor den Fehlern,
die man an ihm entdeckt, seine Seele zu verschliessen. Der Künstler
als Zeitgenosse acceptirt das Wesen, die Formen seiner Zeit, indem er
dieselben, ohne sie durch Anpassung an bildnerische Formeln zu ent-
stellen, in sein Werk überträgt.
Im Alterthum sowohl als vom Beginne der Renaissance war der
Künstler auch Zeitgenosse; doch es verseltsamte sich dieses Zeit-
genossenthum und endete mit der Revolution. Die Schande, von seiner
Kunst verleugnet zu sein, blieb dem XIX. Jahrhundert vorbehalten; vor
der Realität unseres Zeitalters prallten Pinsel und Meissel zurück, die
Einen ins Vergangene, die Andern ins Abstracte. Dieses Flüchten aus
der Gegenwart: Ist es Unfähigkeit oder Ekel? Dem Anscheine nach
beides. Wenn diese Flucht der Kunst auch durch das Vorschreiten des
Hässlichen theilweise gerechtfertigt erscheint, bleibt sie doch eine sträf-
liche Pflichtunterlassung, denn Pflicht der Kunst ist: die Veränderung
der Formen nach ihrer Reihenfolge des Erstehens zu verewigen. Man
pagt unseren Körpern nach, dass sie hässlich seien, und vergisst, dass
Schönheit des Objectes nicht das Wesentliche der Kunst ist. Rembrandt
weist in seinen ganzen Stichen auch nicht eine reine Linie auf, und
Albrecht Dürer, der grosse Dürer, hat nie ein plastisch reines Profil
gezeichnet! Das Wesen der Kunst ist die Seele, und wenn die Seele
unserer Zeitgenossen auch minder hehr geworden ist, so will sie doch
zum Ausdruck gebracht werden. Man liebt und man weint in unseren
Tagen — was braucht es zu einem Meisterwerke mehr?
Die Hässlichkeit des Körpers ist von seltsamer Melancholie, und
die Wiedergabe dieser erhob Dürer und Rembrandt auf die höchste
Sprosse der ästhetischen Stufenleiter Ein Weib aus dem Volke!
Ohne Rasse, vom Uebel des Lebens erschöpft, nur von Lumpen ge-
deckt: Man entkleide es, und man wird die sinnlichen Heiden flüchten
sehen; der Künstlerchrist aber wird erschüttert sein bei dem Anblick
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 294, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-08_n0294.html)