Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 295
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dieses Leibes, den die Mutterschaft entstellt hat, und dieser Brüste, die
so kraftlos hängen. Der Schmerz, diese grosse Muse, hat diesen
Körper, indem er ihn zernarbte, dramatisirt! Eine unleugbare Thatsache
unserer Tage, ob sie sich nun in die Lyrik Byron’s einhüllt oder in die
Barbey d’Aurevilly’s, in den zotigen Freimuth von Armand Silvestre oder
in den Petrarquismus Paul Bourget’s, Factum bleibt: die geschlechtliche
Besessenheit. Je mehr die Decadenz einer Zeit erkennbar wird, desto
mehr verräth sich diese Besessenheit als eine gesellschaftliche Plage
und unabänderliche physische Thatsache.
Um heute Künstler und Zeitgenosse zu heissen, muss der Mensch
Moderner sein, und als solcher bedarf er, um wahrhaft gross dazu-
stehen, tausendfach stärkerer Kraftäusserung als der Nichtmoderne. Das
heisst: ein Moderner muss Zeitgenosse aller Zeitalter, aller Länder
sein, zugleich aber seiner Zeit und seinem Ort verbleiben; daneben
heisst es, Alles gesehen haben von den Ufern des Jordan bis zum Tiber
und der Seine; Alles gelesen haben: Homer und Dante, Confucius wie
die Kritik der reinen Vernunft. Moderner von heute sein, bedeutet
ferner das Wesen der Moderne in zeitgenössische Formen fassen, und
daher gibt es nur einen Künstler, der es im Adlerflug gethan: Félicien
Rops.
Einem Künstler wie Félicien Rops, der den Inhalt eines grossen
Buches bedeutet, in diesem Rahmen gerecht zu werden, ist nicht mög-
lich. Aus den vom Verfasser der »Art romantique« in dem Werke
»Le Peintre de la vie moderne« dem Aquarellisten Const. Guys ge-
widmeten sechzig Seiten passt der Satz: »Heute will ich das Publicum
von einem seltsamen Menschen unterhalten, dessen mächtige, ent-
schiedene Originalität sich selbst genügt und gar nicht erst den Beifall
sucht « auch auf Félicien Rops.
Rops selbst schrieb einem Kritiker: »Glauben Sie, dass es auch
nur interessant genug sei, der alten turba, die blind und taub ist, zu
sagen, was ich bin, oder besser, was ich sein möchte? Mein Kupfer-
blatt scheut das grosse Tageslicht; ich bin ungekannt und befriedige
eine gewisse Eitelkeit damit, ungekannt zu sein.«
Der »tant folâtre Monsieur Rops« Baudelaire’s ist ein Gegensinn,
eine Antiphrase. Von ausserordentlicher Selbstzucht, wie es für einen
Freund Baudelaire’s sich schickt, und mit martialischen, jedoch feinen
Gesichtszügen begabt, welche in ihrer grossen Beweglichkeit die
schwingende, erfassende Künstlerseele offenbaren, besitzt er eine Conver-
sationsgabe, die — die mit absolut nichts vergleichbare Barbey d’Aure-
villy’s ausgenommen — das Lebhafteste, Bilderreichste ist, was man je
gehört haben mag. Dank unermesslicher Belesenheit, ist beispielsweise
seine Kenntniss des Lateinischen mit der vergleichbar, die man im
XVII. Jahrhunderte erwarb.
Für ihn war die Kunst keine »Laufbahn«, sondern Sache des
Geschmackes zuerst, dann Leidenschaft. Baudelaire sagt, Rops’ Ziel sei
»nicht ein Preis von Rom«, und doch bewarb sich jener einst mit »Jesus
Christus, Lazarus erweckend«. In einem riesigen Friedhofe tritt mit
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 8, S. 295, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-08_n0295.html)