Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 327

Ein Einsiedler (Geijerstam, Gustav af)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 327

Text

EIN EINSIEDLER. 327

Er stand an dem Tische und hörte all die wunderlichen Worte,
die gesagt wurden, und die er nicht verstand. Zeugen traten vor, und
seine Augen starrten die Sprechenden an, als erwartete er, dass Je-
mand etwas zu seiner Vertheidigung zu sagen haben würde. Aber die
Verhandlung ging ihren Gang, und aus Allem, was Per fassen konnte,
zog er die Schlussfolgerung, dass er im Vorhinein verurtheilt war, und
dass Niemand etwas herausfinden würde, was man nicht ohnehin mit
Händen greifen konnte, und das war eben gerade nur das Eine, das
Per selbst unmöglich fassen konnte, dass der Bruder todt war und
er selbst ihn getödtet hatte.

Die Hände über der Brust verschlungen, stand Per vor dem
Richter. Er wusste, dass jetzt Alles gesagt war, das gesagt werden
konnte, und nun sollte das Urtheil fallen, das Urtheil, welches das
Unglück besiegelte, das über seinem ganzen Leben geruht hatte. Er
stand und rang seine verschlungenen Hände, als wollte er sie aus-
einanderreissen und könnte nicht; und wieder sah er sich um, als ob
er Hilfe von irgend Jemandem erwartete, Hilfe von Gott oder Menschen,
Hilfe, die nicht kam. Da ertönte die Stimme des Richters:

»Hat der Angeklagte noch etwas zu sagen?«

Wieder sah er sich um, und in Verzweiflung fühlte er, wie einsam
er war. Es schien ihm, dass hier noch mehr zu sagen war; denn nichts
von dem, das gesagt werden sollte, war eigentlich gesagt worden. Und
gleichsam als machte er den Versuch, zum erstenmale, seit er lebte,
sich und Anderen zu entwirren, wie wunderlich ihm das ganze Leben
erschien, begann Per zu sprechen.

»Das gehört nicht zur Sache!« unterbrach ihn der Richter.

Per sah sich verwirrt um und verstummte. Seine Hände fuhren
fort zu arbeiten, als könnte er sie nicht von einander losmachen, und
sein Blick wurde trübe, als versuchte er, in sich selbst hineinzuschauen
und etwas zu finden, das dazu taugen konnte, jetzt vor Anderen offen-
bart zu werden. Dreimal wiederholte der Richter seine Frage, ob der
Angeklagte noch etwas hinzuzufügen habe, dreimal begann Per zu
sprechen, und jedesmal unterbrach ihn der Richter:

»Das gehört nicht zur Sache!«

Da schwieg Per endgiltig, denn er begriff, dass er jetzt nichts
mehr sagen konnte, und er wusste, dass, was er auch sagte, doch
Niemand da war, der darauf hören wollte. Sein Schicksal blieb uner-
klärt, blos weil Per selbst nichts erklären konnte, und sich kein Anderer
fand, der es vermochte, in seine verwirrte Seele zu blicken.

Und so fiel endlich das Urtheil.

Als es verkündigt war, stiess Per einen tiefen Seufzer aus und
sah sich um. Auch jetzt sagte er nichts. Aber mit Verzweiflung merkte
er, dass der Haufe zurückwich, wo er ging; und als Per in dem Ge-
fängnisskarren sass, der fortrollte, da ging es durch die Menge wie
ein Seufzer der Befriedigung, dass der einsame Mann im Unrecht ge-
blieben war bis zum Letzten.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 327, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0327.html)