Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 328
Text
Ich seh’ dir zu mit schauderndem Entzücken,
Du schweigende Braut,
Es leuchtet fahl vor meinen trunk’nen Blicken
Die schillernde Haut.
Dein wallend’ Haar im schöngekrümmten Bogen,
Von Düften umschwebt:
Ein tiefes Meer mit dunkelbraunen Wogen,
Das fluthend sich hebt.
Ich eil’ zu dir beim ersten Morgengrauen
Auf gleitendem Kiel,
Es fiebert meine Seele, bald zu schauen
Das lockende Ziel.
Dein Aug’, das nie und nimmer offenbarte,
Was herb oder hold:
Ein kalter Edelstein, in dem sich paarte
Das Stahl mit dem Gold.
Wenn sich im Rhythmus deine Glieder wiegen
Frei, ohne Gewalt,
Gleichst du den Schlangen, die sich gleitend biegen
Zum Kreise geballt.
Dein Kinderhaupt sieht regungslos zur Erde,
So träge und müd’,
Und deiner schlafbefangenen Geberde
Kein Leben entsprüht.
Dein Körper neigt und streckt sich lüstern wieder,
Ein schwebendes Schiff,
Die Woge trägt es tanzend auf und nieder
Durch Strudel und Riff.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 328, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0328.html)