Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 330
Text
Von Thomas Kóbor1) (Budapest).
Autorisirte Uebersetzung.
Marianne war meine Braut und ist jetzt die Gattin eines Anderen.
Sie spazieren im sonnigen Venedig, natürlich hat sie nach spiess-
bürgerlicher Art ihre Hochzeitsreise dorthin geführt. Und sie tändelt
jetzt an der Seite ihres wohlbeleibten Gatten auf den schwarzen Wässern
der Lagunenstadt, handelt mit den betrügerischen Kaufleuten und badet
am Lido. Mein Gott, sie wird nach Hause kommen und wahrscheinlich
so sein wie noch nie bisher: sich mit frecher Freiheit in den Arm
ihres Gatten einhängen, ohne die Fähigkeit des Erröthens mit frivoler
Ungezwungenheit über Alles sprechen und den Gatten, nach der Art
gewisser Damen, in schlampiger, vernachlässigter Toilette mit ohren-
beleidigendem Kreischen anlachen.
Mein Gatte, mein Haus, mein Dienstbote Woher nehmen nur
die jungen Neuvermählten innerhalb 24 Stunden die vielen verletzenden,
frivolen Züge, mit welchen sie, von der Hochzeitsreise heimkehrend, alle
Jene ernüchtern, die sie mit ihrer mädchenhaften Scheu, mit ihrer er-
röthenden Empfindlichkeit bezaubert haben?
O Marianne, in den schmutzigen Wässern der Lagunen spiegelt
sich Dein Bild, aber auf diesem Bilde fehlen die rosigen Wolken, welche
auf den Wellen der Donau geschwommen, als wir, über den Rand des
Schiffes gebeugt, hinabgeschaut in den perlenden Schaum.
Aber was kümmert’s mich?
Ich habe Ihnen gratulirt, verehrte Frau, als Sie den Altar ver-
liessen, und ich gratulire jetzt mir, dass nicht ich Ihr Partner ge-
wesen. Der Herr, der mit blödem Grinsen die Glückwünsche seiner
Freunde und späteren Hausfreunde entgegennahm, ist Ihrer gerade
würdig. Diesen Herrn genirt es nicht, dass er ein zitterndes junges
Mädchen zur Gattin genommen und jetzt eine nüchterne, prosaische
Frau besitzt, die nach ihrem ersten Wochenbett ganz aus der Form
kommen wird.
Aber ich, ich wäre unglücklich gewesen und hätte die dumme,
gläubige Kurzsichtigkeit meiner Augen verflucht, welche eine Decoration
für einen bezaubernden Blumengarten angesehen und eine mit Raffine-
ment zu Ende gespielte Naivenrolle für eine gottgesegnete, natürliche
Mädchengesinnung. Ich danke es jenem wohlbeleibten Herrn, dass er
1) Thomas Kóbor ist einer der bekanntesten Vertreter der ungarischen
Moderne.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 330, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0330.html)