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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 356

Text

356 KRAUS.

das folgende lobende Zeugniss ausgestellt: » Unbesorgt gestattet er
ihr die weitestgehende Frivolität, und einmal in der Zeit, in elterlicher
Freude über den ersten Schulausweis des Söhnchens, lässt er sich die
Erlaubniss zu einem Cancan für die nächste Novität abschmeicheln.
Es ist eine Frivolität auf gesunder Grundlage, auf der Grundlage des
Familienlebens.« Bei Herrn Bahr findet das Verhältniss seine geistreichste
Bezeichnung in den Worten des Gemahls: »Sie hat die Wadeln —
ich habe den Verstand.« Diese auf der Bühne völlig abgenützte Episode,
deren ganzer Humor von dem Polnisch-Deutsch der Personen be-
stritten wird, entschied den Erfolg des Abends. Frau Crosinski wird
mit dem galanten König von Macedonien in Beziehung gebracht, und
Bahr mag sich gar als Satyriker gefühlt haben, als er die längst den
Librettisten verfallene Leutseligkeit der kleinen Könige zu geisseln
unternahm. Der zufällig im Hause anwesende Exkönig Milan verlieh
der vermeintlichen Satyre actuellen Reiz und erntete allen Beifall, den
Bahr für sich in Anspruch nahm. König Milan hat den Abend ge-
rettet; da er aber nur kurze Zeit in Wien sich aufhält, somit leider
nicht für die Dauer in das Repertoire des Carltheaters übergehen
kann, und auch nicht immer in der Lage sein dürfte, in den Logen
der Provinztheater aufzutreten, wird Hermann Bahr bald auf sich selbst
gestellt sein.

Nun darf man aber nicht etwa glauben, das Stück sei mit
allen seinen Tagessensationen einem grossstädtischen Publicum so recht
auf den Leib geschrieben. Nein, selbst in der Art, wie Bahr
das Aeusserliche sieht, zeigt sich eine den Bourgeois verblüffende
Geschmacklosigkeit, und durch das Ganze zieht sich eine unverkennbar
provinziale Note. Es ist eben immer wieder jener Drang nach Paris,
der in Linz stecken geblieben ist. Wie sich beispielweise Herr Bahr
das Berühmtwerden einer Componistin vorstellt — gleich einer
Chanteuse wird sie von jungen Gecken mit Bouquets und Geschenken
überschüttet — darin liegt eine weltfremde Naivität, eine Unverdorben-
heit, die den Charakteren der handelnden Personen gegenüber wahr-
haft erquickend wirkt. Rührend schlicht ist auch seine Auffassung des
Journalistenstandes, der ihm zwei altersgraue Typen an die Hand ge-
liefert hat: den ausbeuterischen Herausgeber und den neuigkeitslüsternen
Reporter, der natürlich jüdeln muss.

Es handelte sich hier einzig darum, das Niveau des Stückes zu
charakterisiren. Dass für Herrn Bahr die letzten zwanzig Jahre deutscher
Dramaturgie einfach nicht existiren, dass er in der Menschenschilderung
und Scenenführung mit den ältesten Mitteln arbeitet, dass z. B. die Episode
einer Frauendeputation an läppischer Komik ihresgleichen weit hinter
Kotzebue suchen müsste, und dass sich das »Tschaperl« nur, was die
Armseligkeit der Handlung anlangt, der modernen Technik nähert, dies
Alles hätte die Enttäuschung der gesammten Anhängerschaft noch
immer nicht bewirken müssen. Dass aber ein Mann, der uns all-
samstäglich mit der abgeklärten Miene des Weimarers die Sterne vom

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 356, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0356.html)