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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 355

Text

TSCHAPERL. 355

male die an Leopold Andrian und Hugo v. Hofmannsthal gerichteten
einleitenden Worte des Werkes: Eure theuren Namen, lieber Hugo,
lieber Poldi, setze ich auf dieses Buch. Wenn wir jetzt oben sind und
ausschauen können, dürfen wir uns wohl freuen. Wir, die wir Cultur
nach Oesterreich gebracht haben. Ja, damals, lieber Hugo, als wir noch
im Volksgarten zusammen spazieren gingen, war in Oesterreich noch
nicht viel los. Erst mit dem Poldi ist Cultur hinzugekommen. Was wir
der Macht seines dunkeln und zornigen Wesens schulden, soll unver-
gessen bleiben

Der Zuschauerraum des Carltheaters bietet heute einen seltsamen
Anblick. Eine Aufregung, als ob da das literarische Schicksal jedes
einzelnen Theaterbesuchers verhandelt würde. Man traut Herrn Bahr
keine Gaminerien mehr zu — jetzt, da wir oben sind — und er-
wartet das letzte, entscheidende Wort in der modernen Sache. Ein
Parquet von Leuten, die gewohnt sind, das Tägliche ins Ewige zu
rücken, und eine Galerie von »Kennern«. Viel bemerkt werden auf
dem Balkon einige Märtyrer der reinen Kunst, die zwischen Claqueuren
sitzen. Leopold Andrian erscheint, in der Hoffnung, sich heute Abend
endlich mit dem Leben auseinandersetzen zu können; mit ihm Hof-
mannsthal, jeden Moment bereit, der gemeinen Deutlichkeit der Dinge
zu entfliehen. In den Logen junge Damen, die eigens für diesen
Abend von der Parteileitung aus à la Boticelli frisirt wurden. Einige
Stimmungsmenschen sind officiell erschienen. Alles athmet Cultur. Das
Aufziehen des Vorhanges macht diesem schönen Schauspiel ein Ende.
Keines der im Saale anwesenden Talente wäre fähig, die Enttäuschung
zu beschreiben, die sich nun auf allen Gesichtern zu malen beginnt.
Dort oben werden intime Angelegenheiten der Familien Langkammer
und Karczag verhandelt, dazwischen betheuert ein versulzter Altwiener
unausgesetzt, dass Wien Wien bleibe. Die zahlreichen Kenner im Hause,
die sonst bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit an die
heilige Therese, an Jacob Böhme, Maeterlinck und Burne Jones gedacht
hatten, sie mussten jetzt an O. F. Berg denken, an den alten Fürst
und an die reine Kunst des Costa. Ein unsägliches Reporterstück
wurde gespielt, als Erlebniss hatte dem Verfasser die Lectüre der
Coulissenplaudereien eines Montagsblattes gedient. Der Stoff gab ihm
einige Pointen ein, die als Abfälle der »Klabriaspartie« noch immer
ganz gut in »Frau Rosenstock’s Hut« hätten Verwendung finden
können. Aber zu humorlos für einen intimen Herrenabend im Café
Pucher, musste die Dichtung endlich mit dem Carltheater vorlieb
nehmen. Sie hat sich als eine Gesellschaftssatyre erwiesen, welche von
den Zuständen lebt, gegen die sie sich richtet. Dem auf den Ruhm
seiner Frau Eifersüchtigen stellt Bahr jenen Mustergatten gegenüber,
der seine Fähigkeiten mit lobenswerther Selbstüberwindung jederzeit
der Individualität seiner Frau unterzuordnen bereit ist. Hier wird auf Frau
Kopacsi angespielt und auf den liebevollen Verwalter ihrer Pikanterie,
der das subtilste Detail herauszuspüren weiss, welches ihre legitimen
Reize noch erhöhen könnte. Ich selbst habe einmal dem Mann der Diva

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 355, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0355.html)