Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 354
Text
Von Karl Kraus (Wien).
Hermann Bahr, der sich stets in der uneigennützigsten Weise für
die Talente des jungen Oesterreich eingesetzt hat, ging in seiner Selbst-
losigkeit so weit, das »Tschaperl« zu schreiben. Er hatte in Schrift und
Wort für die junge Literatur gekämpft, aber seine Autorität vermochte
die Ungläubigen nicht zu bekehren. Jetzt ist durch die That »Tschaperl«
den Jungwiener Dichtern auf die Beine geholfen. Bei der Aufführung des
»Tschaperl« im Carltheater haben selbst Jenen, welche an der drama-
tischen Begabung Arthur Schnitzler’s noch zweifeln mochten, die Vor-
züge der »Liebelei« eingeleuchtet. Wer nicht schon früher wusste, dass
Hofmannsthal ein feiner Künstler sei, erkannte es an diesem Abend,
ich lernte Leopold Andrian schätzen, ja Herr Leo Ebermann kam mir
mit einemmale wie ein moderner Dramatiker vor. So selbstlos
talentlos ist dieses »Wienerstück« von Hermann Bahr. Die Schüler des
Meisters, jene, welche nicht die Stirne hatten, öffentlich begeistert zu
sein, waren zuerst enttäuscht, um dann einander mit der Versicherung
zu beruhigen, das Stück wolle ja gar nichts mit der Literatur zu thun
haben, es sei sozusagen eine Privatunternehmung des Hermann Bahr.
Mir erscheint diese Auffassung durchaus unlogisch, und ich bin, wie
oben ausgeführt, weit eher der Meinung, dass es sich hier um einen
oder vielmehr vier Acte der Bescheidenheit handelt, und dass Herr
Bahr in Fortsetzung seiner Führerrolle sich für die von ihm entdeckten
Talente einfach aufopfern wollte. Dass hiebei das altgewohnte Ȏpater
le bourgeois!« nicht zu kurz kommen durfte, versteht sich wohl von
selbst. Der Schäker Bahr! Immer verblüfft er, »immer macht er Witze«
— wie wir uns mit Crosinski im »Tschaperl« classisch auszudrücken
pflegen; man erwartet neue Psychologien, irgend eine Sensation von
übermorgen, mindestens den Versuch einer neuen »Note« — und
bekommt ein völlig belangloses Zeug, ein paar läppische oder mindestens
abgebrauchte Situationen aufgetischt. Da gab es voreilige Schwärmer, die
sich zur Première des »Tschaperl« durch die Lectüre des letzten Bahr-
schen Buches »Renaissance« vorbereitet hatten. Ihre Pulse hämmerten,
ihre Herzen klopften schneller, da sie Bahr mit prunkenden Worten die
Wiedergeburt der Kunst verkünden hörten, jener alten österreichischen
Kunst, die wir Alle schon todt und begraben wähnten. Renaissance!
»Also heute Abend im Carltheater!« riefen sie sich zu, berauscht von
den Versprechungen, die heute wohl alle in Erfüllung gehen würden.
Und in der Garderobe des Carltheaters wiederholten sie sich zum letzten-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 354, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0354.html)