Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 349
Text
QUELLE KÜNSTLERISCHER INSPIRATION.
Von Oscar Panizza (Zürich).
Knüpf Dich auf, Przybyszewski, dass Dir der Stoff ausgekommen ist.
Léon Bazalgette behandelt das Thema im Septemberheft des
»Magazin international«, Paris, 1896, und kommt im Anschluss an ein
symbolisches Gedicht, »Aquarium mental«, von G. Rodenbach (»Les
vies encloses«, Paris, Charpentier, 1896) zu der Schlussfolgerung: die
Neigung einer jüngsten Generation von Schriftstellern — nos modernes
Narcisses nennt sie Bazalgette — die Augen vor der Aussenwelt zu
schliessen und in einem inneren, geistigen Rausch neue, ungeschaute
Freuden zu erleben — »fêtes mentales« gebraucht Rodenbach — ent-
zückende Formen zu betrachten, Keuschheiten unberührten Glanzes zu
schauen und einen neuen kastalischen Quell sprudeln zu sehen,
»eau de l’aquarium dont la pâleur miroite
— c’est comme si du clair de lune se gelait —
et, n’ayant pas voulu se mêler à la vie,
s’en épure et de plus en plus se clarifie «
(Rodenbach.)
diese geistigen Exercitien seien vom Uebel, entkräfteten undzerstörten den Organismus, denn das Leben sei: ausgeben, nicht: zu-
rückbehalten, u. s. w.
So einfach liegt nun die Sache nicht. Wir haben bekanntlich in
Deutschland ebenfalls eine jüngste Generation dieser unberührten Blüthen-
jünglinge, dieser Narcisse und Adonisse — Symbolisten heissen sie
bei uns — und ihre geistigen Fêten sind uns wiederholt auf buch-
händlerischem Wege zugekommen. Man mag nun über den buch-
händlerischen Erfolg urtheilen, wie man will, es geht nicht, einfach zu
sagen: »Wer sich ausgibt, sexuell ausgibt, der ist gesund und wird als
Dichter Glückliches hervorbringen; wer sich zurückhält, geschlechtlich
zurückhält und den Drang auf die geistige Bahn treibt, ist unnormal
und wird als Dichter verunglücken.«
Ganz im Gegentheil!
Man braucht nur einen Knaben in den Entwicklungsjahren anzu-
sehen und seine unruhige Psyche zu verfolgen und wird ihn viel
interessanter finden als — den Jüngling, der bereits in den Armen
der cocotte gelegen.
Geistigen Tiefgang wird der Erstere jedenfalls in höherem Maasse
besitzen.
Allerdings haben die Grobsinnlichen, die »Ausgebenden«, die
Brutalen Goethe für sich und können mit diesem glänzenden Bei-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 349, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0349.html)