Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 350

Die sexuelle Belastung der Psyche (Panizza, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 350

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350 PANIZZA.

spiel prunken. Aber Goethe als das Höchste in der Poesie anzu-
sehen, habe ich nie vermocht Dazu ist er mir doch zu seicht. Und
»’s Haideröslein« ist wahrhaftig nicht die letzte Offenbarung im Liebes-
problem des Menschen. — An Wagner’s düster gefasstem Liebespaar
»Tristan und Isolde« gemessen, ist Goethe ein entsetzlicher Schäker.

Doch man braucht gar nicht so weit zu gehen. Man braucht nur
in unseren Tagen die zahllosen enthaltsamen Mädchen reifen Alters,
wie wir sie in unseren Salons antreffen, zu beobachten und zu studiren,
um sofort zu finden, dass eine junge Dame, die keinen geschlechtlichen
Umgang hat, allemal interessanter, geistig gerüsteter, allerdings auch
leidender ist als eine junge Frau gleichen Alters, die geboren hat.
Und nur die kinderlose Frau kommt der Celibatärin gleich oder über-
trifft sie manchmal. Eine Frau in der Kinderstube, die dichtet oder
schriftstellert, kann ich mir kaum denken. Umgekehrt waren die her-
vorragendsten Dichterinnen und Schriftstellerinnen meist unvermählt;
siehe Droste-Hülshoff, siehe Ada Negri, siehe Sappho, siehe
Gabriele Reuter u. A.1)


1) Dass bei Zunahme und Steigerung der Intelligenz die geschlechtliche
Sphäre leidet oder brach zu liegen kommt, zeigt die Verkümmerung, zeigt der
Verlust der Fülle und Schönheit des weiblichen Busens bei der Engländerin,
Amerikanerin und Berlinerin, was von allen Forschern und Beobachtern bestätigt
wird (siehe Ploss: »Das Weib«, 3. Aufl., Leipzig, 1891, Bd. I, S. 179—180).
Umgekehrt: Fülle und Schönheit des Busens sowie Grazie und blühende Körper-
formen bei der intellectuell tiefer stehenden Wienerin (siehe ebenda). — Dass
der Ehelosigkeit und Enthaltsamkeit heute auch in anderen Kreisen als denen
der französischen Narcisse das Wort geredet wird, zeigen z. B. die Schriften
Grabowsky’s, in deren einer es heisst: »Es ist das wohlverstandene eigene
Interesse, welches Jeden antreiben sollte, Enthaltsamkeit zu üben. In dunkler,
geheimnissvoller Weise verliert, wer sich dem Weibe hingibt, mehr weniger die
Fähigkeit, metaphysisch zu denken, sein höheres Ich gewahr zu werden. Ueber-
haupt ist aller irdische Sinnesgenuss Feind der Erkenntniss.« (N. Grabowsky:
»Die geschlechtliche Enthaltsamkeit als sittliche Forderung«. Leipzig, 1894, S. 18.)
Auch Paulsen sagt in seiner Ethik: »Es ist oft bemerkt worden, dass unter
den grossen Philosophen, die dem Gedanken neue Bahnen brachen, die meisten
unverheiratet waren. Sicher ist es nicht zufällig. Männer wie Bruno, Spinoza,
Schopenhauer kann man sich schwerlich als Ehemänner und Familienväter vor-
stellen: sie wären Andere geworden, wenn sie Weib und Kinder gehabt hätten,
vorsichtiger, behutsamer, zahmer.« (Paulsen F.: »System der Ethik«. 2. Aufl.,
Berlin, 1891, S. 619.) Aber auch Descartes, Leibnitz, Newton und Kant waren
unverheiratet. Und die berühmte Briefstelle des Letzteren, wo er 42jährig an
Moses Mendelssohn schreibt: »Ich habe den grössten Theil meiner Lebenszeit
hindurch gelernt, das Meiste von demjenigen zu entbehren und zu verachten, was
den Charakter zu corrumpiren pflegt« (Imanuel Kant’s sämmtliche Werke, her-
ausgegeben von Rosenkranz. 11. Theil, Leipzig, 1842, S. 7), bezieht sich doch
offenbar auch auf den Geschlechtsgenuss. — Es ist interessant, dass die Scholastiker
an der Meinung festhielten, das sperma virile werde, wenn nicht benützt, wieder
aufgesaugt und komme dem Gehirn zugute; eine Meinung, die man selbst heute
noch in Jesuitenbüchern finden kann. Natürlich ist diese Vorstellung nach unseren
heutigen physiologischen Kenntnissen unzulässig. Es handelt sich nicht um eine
Transmigration, sondern um eine nervöse Fortpflanzung des durch die geschlecht-
liche Inhibition gesetzten Reizes zum Gehirn, dessen Phantasie dann allerdings
deutlich den Charakter der Provenienz erkennen lässt.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 350, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0350.html)