Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 351
Text
Doch wir wollen die Sache etwas tiefer zu fassen versuchen.
Es scheint, dass der heranwachsende Mensch geistig, imaginativ
einen Typus in sich aufzubauen sucht, den er da, wo er geistig pro-
ducirt, in die Aussenwelt hinauszustellen, zu verwirklichen strebt, und
der beim Künstler direct zum Vorschein kommt. Dieser Typus hat oft,
oder meist, nichts mit seinem Aeusseren oder seiner Alltagserscheinung
zu thun. So hat Richard Wagner während seines ganzen Lebens
künstlerisch den Typus festgehalten des im Leben kämpfenden, dem
Schicksal erliegenden, vom Weib erlösten Mannes: »Holländer«,
»»Tannhäuser«, mit leichter Umkehrung auch im »Lohengrin«, Walther
in »Meistersinger«, wiederum mit leichter Verschiebung im »Tristan«,
dann deutlich »Siegfried« und »Parcival«. Beim Dramatiker fällt es
naturgemäss leichter, dem Geheimniss auf die Spur zu kommen, weil
die Figuren deutlich auftreten. Aber trotzdem ist es nicht immer sofort
zu erkennen. Schiller liebt vor Allem den vor einem übermächtigen,
feindlichen Schicksal tragisch erliegenden Helden: »Tell«, »Wallenstein«,
weiblich gewendet »Die Jungfrau von Orleans«, in den Jugenddramen
tritt neben dem meist gross gezeichneten Helden noch eine Idealfigur
— neben »Franz« noch »Carl«, neben »Don Carlos« noch »Marquis
Posa« — und es tritt eine Spaltung ein; es darf nämlich als ganz
sicher angenommen werden, dass der in seiner Jugend überaus häss-
liche, unansehnliche und durch seine Lebensumstände verbitterte Dichter
sich genau in »Franz« ebenso ausgetobt, wie in »Carl« seinen Wunsch-
menschen herauskrystallisirt hat. Im »Demetrius« dann, in seiner besten
Arbeit, wiederum der Haupttypus. Bei lyrisch gefärbten Dramatikern
ist es natürlich kinderleicht, zu erspüren, wo der Autor sich hinein-
geheimnisst hat. Und nächst dem »Werter«, wo ein intensives persön-
liches Erlebniss alles Andere in den Hintergrund drängt, verspüren
wir in »Tasso«, »Iphygenie«, »Faust« immer genau, wo Goethe zu
Worte kommt, und wo der schön gestaltete Genius, der wohl leidet,
aber nicht zu viel, in vornehmer Erhabenheit die Welt kostet, um dann
zu den Sternen zu entfliehen. — Manchmal ist es nur eine auffallende
Wärme des Tones oder eine Leichtigkeit der Aussprache und der
Gestaltung, die uns einen Fingerzeig gibt, wo der Künstler sein Liebstes
hingelegt. In den Biographien von Zeichnern, Schauspielern, Novellen-
schreibern finden wir häufig die stereotype Wendung: Am besten ge-
lingen ihm die sentimentalen Mädchen] oder die Naturburschen oder
die bonvivants u. dgl. Hier ist dann meistens der psychische Factor
getroffen, der zum Aufbau des Idealtypus herhalten musste. So malte
der französische Genremaler Greuze fast nichts oder nichts so gut
als junge, melancholisch angehauchte, pitoyable Mädchen in ärmlicher
Kleidung. Dieser Typus gelang ihm ganz sicher. Und nur hierin fand
er Anerkennung. Bei Schauspielern ist die Sache so evident, dass es
keiner weiteren Erörterung bedarf. Aber auch auf den übrigen künst-
lerischen Gebieten könnte man der Beispiele in Menge anführen. Heine
hat den Typus des sentimentalen Naturmenschen, der sich im letzten
Augenblicke rasch aus der Situation herausreisst und mittelst einer
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 351, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0351.html)