Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 352
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humoristischen Wendung zur Vernunft hinüber rettet, in seinen lyrischen
Gedichten zu solcher Virtuosität ausgebildet, dass er desselben selbst über-
drüssig wurde, ihn aber nicht losbrachte. Und bekannt ist auch die
eigenthümliche Situation, in der sich hervorragende Menschen in ent-
scheidenden, der Inspiration nahegerückten Momenten befanden, und
in der sie, wie z. B. Napoleon, Kepler, Byron, einen genius-
artigen, personificirt gedachten Idealtypus oder Idealmenschen ihr gegen-
wärtiges Geschick bestimmend oder entscheidend dachten.
Es scheint nun, dass diese bei Künstlern oder hervorragenden
Geistesmenschen zur Personificirung des in ihnen steckenden geistigen
Kernes sichtbare und offenkundige Neigung einem psychischen Process
entspricht, der mehr weniger bei allen Menschen platzgreift und eine
Symbolisirung von theils ererbten, unbewussten Anlagen, theils er-
fahrenen Lebensumständen in der Richtung zum Persönlichen, zum
Menschbildenden darstellt.1) Und dieses Herausstellen des Idealtypus,
das Verdichten von leisen Ahnungen, hauchartigen Anwandlungen und
feinsten Instincten zur sicheren, fast hallucinatorisch gesehenen Gestalt
wird um so leichter gelingen, je rein geistiger oder vorwiegend
geistiger und stark innerlich geartet der Betreffende ist.
Und damit kommen wir zum Ausgangspunkte unserer Erörterung
zurück, zu der Frage: ob der rein mental arbeitende Mensch, genauer:
ob der einen Theil seiner sexualen Antriebe mental verdichtende
Künstler und Dichter in höherem Masse zur künstlerischen Leistung
befähigt ist oder nicht?
Nun erscheint so viel klar: dass die sexuelle Cohabitatio in der
Regel in der Psyche tabula rasa macht, keinen Trieb zurücklässt und
die vorhandenen gesättigt verschwinden lässt; dieser Eintritt einer Nieder-
geschlagenheit scheint nun allerdings für sehr viele Leute nicht zu
stimmen. Aber so viel dürfte doch sicher sein, dass der Hauptimpetus
des Lebens mit diesem Moment erloschen und geknickt ist; wie ja
auch die Vorbereitungen der Thiere zum Liebeswerben und dieses
Werben selbst die höchste Anspannung der sinnlichen und geistigen
Kräfte hervorlockt und -ruft (Nachtigallenschlag, Hochzeitsschmuck des
Gefieders, Tanz und Balz des Spielhahnes u. dgl.), während umgekehrt
der vollzogene Act den Vogel erstummen und erlahmen lässt. Auch ist
es unbestritten, dass schrankenlose Befriedigung des Geschlechtstriebes
beim Menschen die geistigen Kräfte eher erschlaffen lässt, jedenfalls
nicht steigert.
Es käme also ganz darauf an, in welchem Moment für jeden
Einzelnen die Bedingungen zur Gestaltung und Personificirung der un-
sichtbar und unbewusst in uns liegenden, künstlerisch verwerthbaren
Triebe besser gegeben sind, ob post, ob ante.
1) Patrizi in seinem Saggio psico-antropologico su Giacomo Leopardi,
Torino 1896
, sagt, Leopardi habe in seinen Gedichten den krankhaften, hystero-
epileptischen Kern, der in der ganzen Familie stecke, zum Typus erhoben und
damit zum erstenmale die Idealfigur des modernen Pessimisten in die Dichtung
eingeführt.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 352, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0352.html)