Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 366

Santa Caterina di Siena (Lagerlöf, Selma)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 366

Text

SANTA CATERINA DI SIENA.
Von Selma Lagerlöf.
Autorisirte Uebertragung aus dem Schwedischen von Francis Maro.

Ganz so ist es, als wäre sie gestern gestorben, ganz als hätten
Alle, die heute, da ihr Fest gefeiert werden soll, in ihrem Hause aus-
und eingehen, sie gesehen und gekannt.

Aber eigentlich kann doch Niemand glauben, sie sei so kürzlich
gestorben, denn da würde man mehr Schmerz und Thränen gesehen
haben und nicht bloss ein stilles Vermissen, so wie jetzt. Eher ist es,
als ob eine geliebte Tochter eben geheiratet hätte und vom väterlichen
Heime fortgezogen wäre.

Werft nur einen Blick auf die nächsten Häuser, wo alle die
wohnen, die sie aufwachsen gesehen. Die alten Mauern sind noch fest-
lich verkleidet. Und in ihrem eigenen Heim hängen noch Blumen-
guirlanden unter Pforten und Loggien, grünes Laub liegt auf Treppen
und Schwellen, und in den Zimmern duftet es nach Blumensträussen.

Es ist gar nicht so, als sei sie schon seit fünfhundert Jahren
todt. Viel eher, als hätte sie ihre Hochzeit gefeiert und wäre fort-
gezogen in ein Land, aus dem sie spät oder niemals wiederkehren
kann. Sind es nicht lauter rothe Tücher und rothe Decken und rothe
Seidenfahnen, die die Häuser verkleiden, und sind nicht die grössten,
rothesten Papierrosen in die dunklen Steineichenguirlanden gesteckt,
und die Schabracken über Thüren und Fenstern, sind sie nicht roth mit
goldenen Fransen? Kann es etwas Fröhlicheres geben?

Und seht nun, wie drinnen im Hause alte Frauen umhergehen
und ihre kleinen Besitzthümer betrachten. Es ist, als hätten sie sie
gerade diesen Schleier, dieses Bussgewand tragen sehen. Sie besehen
das Zimmer, wo sie wohnte, und weisen auf die Lagerstatt und auf
die Briefbündel. Und sie erzählen, wie sie es erst gar nicht lernen
konnte zu schreiben, aber dann kam es ganz plötzlich über sie, dass
sie es konnte — ganz ohne Unterricht. Und seht nur, welche gute,
klare Handschrift! — Dann zeigen sie auch die kleine Flasche, die sie
am Gürtel zu tragen pflegte, um ein paar Tropfen zur Hand zu haben,
wenn sie Jemand Krankem begegnete; — und sie lesen einen Segens-
spruch über der alten Nachtlampe, die sie in der Hand trug, wenn sie
ging und die Kranken in den Nächten des Leidens aufsuchte. Es ist
ganz, als wollten sie sagen: »O Gott, Gott, dass sie nun fort ist, die
kleine Caterina Benincasa, dass sie nie mehr kommen wird und nach
uns Alten sehen!«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 366, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0366.html)