Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 367

Santa Caterina di Siena (Lagerlöf, Selma)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 367

Text

SANTA CATERINA DI SIENA. 367

Und sie küssen ihr Bild und nehmen Blumen aus den Sträussen
und bergen sie als Andenken.

Es sieht ganz so aus, als hätten die im Heime Zurückgebliebenen
sich lange auf die Trennung vorbereitet und alles Mögliche zu thun
versucht, um das Gedächtniss der Fortgezogenen so recht lebendig zu
erhalten. Seht, dort auf der Wand, da ist sie gemalt, da ist ihre ganze,
kleine Geschichte Zug für Zug gesammelt. Da ist sie, wie sie sich das
lange, schöne Haar abschnitt, damit kein Mann sie lieben konnte,
denn sie wollte nicht heiraten! O, o, welchen Schimpf sie darum
leiden musste! Es ist schrecklich, daran zu denken, wie ihre Mutter
sie quälte und sie wie eine Dienstmagd behandelte und sie auf dem
Steinboden im Flur schlafen liess und ihr nichts zu essen geben wollte,
bloss weil sie beharrlich blieb. Aber was sollte sie thun, sie, die keinen
anderen Bräutigam haben wollte als Christus, da sie stets versuchten,
sie zu verehelichen? Und da ist sie, wie sie auf den Knien lag und
betete und ihr Vater in das Zimmer trat, ohne dass sie darum
wusste, und eine schöne weisse Taube über ihrem Haupte schweben
sah, so lange das Gebet währte.

Und da ist sie, in einer Weihnachtsnacht, als sie sich zum Altar
der Madonna geschlichen, um sich so recht der Geburt des Gottes-
sohnes zu freuen.

Und die schöne Madonna beugte sich aus dem Rahmen hinab
und reichte ihr das Kind, damit sie es für einen Augenblick in ihren
Armen halten sollte. Ah, welche Wollust da über ihr war!

Du lieber Gott, ja, man muss ja auch nicht sagen, dass sie todt
ist, die kleine Caterina Benincasa. Man kann ganz einfach sagen, sie
sei fortgezogen mit ihrem Bräutigam.

Dort im Hause wird man nie ihr frommes Thun und Lassen
vergessen. Da kommen alle Armen Sienas und klopfen an die Thüre,
denn sie wissen, dies ist des kleinen Jungfräuleins Hochzeitstag. Und da
sind grosse Haufen Brot für sie bereit, ganz als wäre sie noch daheim.
Sie bekommen Körbe und Taschen voll. Sie hätte sie nicht schwerer
beladen wegschicken können, wenn sie selbst dagewesen wäre.

Da ist ein solcher Kummer um die Dahingegangene, dass man
kaum begreift, wie der Bräutigam das Herz hatte, sie fortzuführen.

Drinnen in den kleinen Capellen, die in jeder Ecke des Hauses
eingerichtet sind, lesen sie Messe um Messe, den ganzen Tag, und sie
rufen die Braut an und singen Hymnen an sie.

»Heilige Caterina,« sagen sie, »an deinem Todestag, der dein
himmlischer Hochzeitstag ist: Bitt für uns!«

»Heilige Caterina, du, die du keine andere Liebe hattest als
Christus, du, die du im Leben seine verlobte Braut warst und im
Tode von ihm im Paradiese empfangen wurdest: Bitte für uns! Heilige
Caterina, du strahlende Himmelsbraut, du allerglückseligste Jungfrau,
du, die die Gottesmutter zur Seite des Sohnes erhob, du, die an
diesem Tage von Engeln in das Reich der Herrlichkeit getragen wurde:
Bitte für uns!« — — — —

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 367, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0367.html)