Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 368

Santa Caterina di Siena (Lagerlöf, Selma)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 368

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368 LAGERLÖF.

Es ist wunderlich, wie lieb man sie gewinnt, wie das Heim und
die Bilder und die Liebe der Alten und Armen sie lebend macht.
Und man beginnt nachzugrübeln, wie sie wirklich war, ob sie nur
eine Heilige gewesen, nur eine Himmelsbraut, ob es wahr ist, dies,
dass sie es nicht vermochte, einen Anderen als Christus zu lieben.
Und da kommt eine alte Erzählung, die vor langer Zeit das Herz er-
wärmt, aus der Erinnerung aufgetaucht, erst ganz unbestimmt und
formlos; aber während man in dem festlich geschmückten Hause unter
der Loggia sitzt und die Armen mit ihren gefüllten Körben fort-
wandern sieht und das dumpfe Murmeln aus der Capelle hört, wird
das Schwebende immer deutlicher und steht mit einemmale ganz klar
vor dem Gedanken.

Nicola Fungo war ein junger Edelmann von Perugia, der oft
nach Siena kam um der Wettrennen willen. Er merkte bald, welch
schlechte Verwaltung Siena hatte, und sagte oft, sowohl bei den Gast-
mählern der Grossen, als wenn er im Wirthshause sass und trank,
dass Siena sich gegen die Signoria erheben und sich andere Macht-
haber schaffen sollte.

Die damalige Signoria war noch nicht länger als ein halbes Jahr
am Ruder; sie war ihrer Stellung nicht sehr sicher und mochte es
nicht leiden, dass der Perugier das Volk aufreizte. Um der Sache ein
rasches Ende zu machen, liess sie ihn gefangen nehmen, und nach
einem kurzen Verhör wurde er zum Tode verurtheilt. Man warf ihn
in eine Gefängnisszelle des Palazzo pubblico, indess Alles zur Hin-
richtung vorbereitet wurde, die am nächsten Morgen auf dem Markt-
platze stattfinden sollte.

Im Anfange dünkte es ihm wunderlich. Morgen sollte er also
nicht mehr seinen grünen Sammetmantel tragen und das schöne Wehr-
gehänge, er sollte nicht über die Strasse gehen in seinem Straussfedern-
barett und die Blicke der jungen Mägdlein an sich locken. Und es
schwebte vor ihm wie eine schmerzliche Leere, dass er sein neues
Pferd nicht würde reiten können, das er gestern gekauft und erst ein
einziges Mal probirt hatte.

Plötzlich rief er den Gefängniswächter und hiess ihn zu den
Herren der Signoria gehen und ihnen sagen, dass er sich unmöglich
tödten lassen konnte, er hatte keine Zeit. Er hatte zu viel zu thun.
Das Leben konnte ihn nicht entbehren. Sein Vater war alt, und er
war ja der einzige Sohn, er war es, der das Geschlecht fortsetzen
sollte. Er, der die Schwestern zu verheiraten hatte, er, der den neuen
Palast bauen, den neuen Weingarten pflanzen musste.

Er war ein stattlicher junger Mann, er wusste nicht, was Krank-
heit war, nichts als Leben hatte er in den Adern. Sein Haar war
dunkel und die Wangen rosig. Er konnte es nicht fassen, dass er
sterben sollte.

Wenn er daran dachte, dass man ihn wegriss von Spiel und
Tanz und Carneval, vom Wettrennen nächsten Sonntag, von der Sere-
nade, die er der schönen Giulietta Lombardi bringen wollte, da wurde

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 368, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0368.html)